...gelesen...

Albert Jacquard
"Was wir wirklich müssen, um die Welt zu verstehen. Wissenschaft für Nicht-Wissenschaftler" (Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 2002)

Das Buch ist im wesentlichen das, was der Titel verspricht, nämlich eine geraffte Zusammenfassung der heutigen Wissenstandes über das Universum, Naturkonstanten, Zeit, Raum, Genetik und Evolution, leider aber nicht in einer Sprache und Allgemeinverständlichkeit, die auch Menschen ohne Universitätsabschluss zugänglich wäre - es sei denn sie würden wie Rudi Dutschke sich tagelang in einzelne Seiten und Sätze vertiefen. Den Hauptteil beschließt ein eher philosophisches Kapitel über "Zweckbestimmtheit, Determinismus und Zufall".
Der zweite Teil des Buchs erklärt verschiedene mathematische und logische Methoden wie Korrelation und Wahrscheinlichkeitsdenken, doch die Kompaktheit der Darstellung geht erneut zu Lasten der Verständlichkeit. Interessant ist hier wieder das abschließende Kapitel über Prüfungen als wissenschaftliche Methode zur Messung des Erfolgs der Wissensvermittlung nicht nur für den Schüler sondern auch für den Lehrer, wobei Jacquard sich klar gegen Multiple Choice ausspricht, weil auswendiggelerntes Wissen eben kein Werkzeug zum Lösen von neuen Problemen ist.
Der mit "Einige Fragen" überschriebene Schlussteil des Buchs geht schließlich über den Buchtitel hinaus und stellt die philosophische Frage nach dem Wesen des Menschen an sich, wenn er doch aus den gleichen Elementen und Naturgesetzen wie jedes einzelne Sandkorn entstanden sei. Laut Jacquard ist es die menschliche Fähigkeit zu wissen, dass man ist, die Erkenntnismöglichkeit über das Selbst, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Danach wendet sich der Autor der Frage nach einer Moral, die das menschliche Zusammenleben bestimmen könne, zu. Wie bei einem französischen Intellektuellen nicht anders zu erwarten lehnt Jacquard die Vorstellung eines Vertrages zwischen Mensch und Gott als Grundlage einer Moral ab. Vielmehr könne die Moral nur aus einer Ethik erwachsen, die zur Grundlage die Erkenntnis habe, dass erst die Teilhabe an der Gesamtheit aller Menschen jeden einzelnen zu einem vollständigen Menschen mache. Welche genauen Moralsätze aus einer solchen Ethik erwachsen könnte, darauf bleibt und Jacquard (leider?) die Antwort schuldig.
(2005-09-14)

Naomi Klein
"No Logo. Der Kampf der Global Players um Marktmacht. Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern" (Riemann Verlag, München 2002)

"Ich habe einen Universitäts-Abschluss in Politik. Wenn ich manchmal andere Musiker über Politik reden höre, klingt das wirklich krank. Sie verkaufen das Buch "No Logo" von Naomi Klein als Meisterwerk. Für mich ist das ein Buch für Zehnjährige, denn alles, was da steht, ist so verdammt offensichtlich.
Ich bin der Erste, der zugeben würde, dass er nicht der größte Musiker der Welt ist. Ich würde mir wünschen, dass andere Bands zugeben würden, dass sie keine Ahnung von Politik haben. Denn wenn ich mit irgendeiner Band debattieren sollte, würde ich sie platt reden. Die Theorien von Marx, Engels und Gramsci haben mich immer interessiert."
(Nicky Wire/Manic Street Preachers in SPEX 11/02, Seite 84)

"Dass es bei diesen sozialen Anwandlungen tatsächlich nur um punktuelles, angelesenes Wissen und nicht etwa um Ausprägungen einer linken Weltanschauung im klassisch-europäischen Sinne geht, zeigt sich darin, dass Kayne Fragen zur politischen Lage in den USA mit lapidaren Desinteressebekundungen vom Tisch fegt. Nur als er darauf angesprochen wird, warum er denn trotz seiner scheinbar konsumkritischen Haltung Nike-Schuhe trage, wo es doch ein Gemeinplatz sei, dass die Firma in Fernost an der Kinderarbeit beteiligt ist, bemerkt man echte Ratlosigkeit: "Was sagst du da?", fragt Kayne besorgt. "Davon weiß ich nichts. Du musst mir später unbedingt mehr davon erzählen. Vielleicht mache ich ja einen Song darüber." (Stephan Szillus über Kayne West in SPEX 9/05, Seite 58)

Ich bin mir nicht sicher, ob "No Logo" von Naomi Klein viel bewegt hat. Ist das Buch nicht vielmehr 5 Jahre nach der Erstveröffentlichung fast schon wieder vergessen? Und hat es denn je solche Kampagnen gegen einzelne (Bekleidungs-)Marken wegen ihrer ausbeuterischen Herstellungsmethoden in der 3.Welt hier in Europa gegeben, so wie sie von Klein aus den USA berichtet werden? Der Boykott gegen Shell wegen der beabsichtigten Versenkung der Ölplattform Brent Spar in der Nordsee, von Greenpeace initiiert (später hat Greenpeace zugegeben, mit falschen Zahlen operiert zu haben), war ein großes Ding, die Hinrichtung von Ken Saro-Wiwa in Nigeria zum Wohle von Shells Gewinninteressen schon nicht mehr (ein Toter mehr oder weniger in Afrika, wen kümmert es, und außerdem ist Nigeria kein Ziel für Pauschaltouristen) - und das war es dann auch schon, was an Kampagnen wegen "unmoralischen Verhaltens" von Konzernen bei mir als irgendwie durchschnittlich politisch interessierten Deutschen, der aus dem studentischen Milieu herausgefallen ist, angekommen ist.
Das Buch von Klein zerfällt in 2 Teile, zum einen der Beschreibung der Macht der Logos, zum zweiten der Kampf gegen sie. Leider ist der (damals) wichtigere zweite Teil der unergiebigere.
Im ersten Teil beschreibt Klein detailliert das Entstehen der "Marken" und ihren Aufstieg gegenüber den traditionalen kapitalistischen Unternehmen. Das Wesen der Marke ist laut Klein das Entkoppeln von Produkt und Produktion mit der Folge, dass obwohl die Herstellung in die 3.Welt verlagert wird das Produkt immer noch als z.B. amerikanisch gilt wie bei den Modeartikeln von Tommi Hilfiger, Nike etc. Das Drücken der Herstellungskosten führt zu höheren Werbeetats und damit Machtmitteln zur Verdrängung von Markt-Konkurrenten und daraus entstehender Marktmacht, die in die Politik hineinwirkt und gleichzeitig nationale Grenzen überwindet. Die Produktion dagegen wird immer ausbeuterischer (Hungerlohn, Kinderarbeit, keine gewerkschaftlichen Rechte etc.), unterstützt von der Einrichtung rechtsfreier Räume in der 3.Welt genannt Freihandelszonen, in Wirklichkeit aber nur das ökonomische Äquivalent zu Guantanamo Bay, der rechtfreien Folterbasis des amerikanischen Militärs.
Die von Klein beschriebenen Möglichkeiten des Kampfes gegen die Markenmacht sind nur teilweise überzeugend. "Culture jamming", das Spiel mit der Verfremdung der Logos - ein Witz, der sich zu schnell verbraucht. Machen Punks schon seit Jahren und meinten es immer nur witzig, nie politisch. "Reclaim the streets", die Straße als von Geschäftinteressen okkupierten Raum für die Öffentlichkeit zurückerobern - Anarchie, die in Deutschland nicht gut ankommt. Der einzig effektive Weg scheint mir die Aufklärung der Menschen über die Praktiken der Herstellung und die exorbitanten Gewinnspannen zu sein - z.B. als Parole "Du darfst nicht für sie arbeiten aber ihre Waren teuer kaufen". Das gilt aber heute generell, weil auch die "old economy" wie z.B. Autohersteller ihre Produktion ins Ausland verlagern und dabei auf die Täuschungsmanöver der "brands" verzichten können, weil der durch die mulinationalen Konzerne verursachte Verlust an Arbeitsplätzen auch der traditionellen Industrie eine neue Erpressungsmacht in die Hände gespielt hat. Insoweit ist "No Logo" heute nur noch von historischem Interesse, weil die Wirtschaftslage sich verändert hat. Um die "kids" heute zu politischen Handeln anzufixen bedarf es neuer Argumente, die "No Logo" nicht anbieten kann, auch nicht im aktualisierten Nachwort.
(2005-09-12)

Hubert Schleichert
"Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren - oder Anleitung zum subversiven Denken" (C.H.Beck, München 1997)

Der Titel des Taschenbuchs suggeriert möglicherweise, Hilfe bei Diskussionen mit Fundamentalisten, worunter aktuell zumeist Islamisten verstanden werden, auch wenn es auch andere Arten von Fundamentalismus gibt, zu bekommen, doch darum geht es Schleichert nur indirekt. Er versucht vielmehr auf der Metaebene zum einen die Struktur und Logik von Argumentationsformen aufzuzeigen, zum anderen anhand vergangener theologischer Dispute die grundsätzliche Unmöglichkeit einer erfolgversprechenden Argumentation mit Fundamentalisten darzulegen. Gleichzeitig aber zeigt er Möglichkeiten auf wie der Streiter für Vernunft Fundamentalisten innerhalb einer Glaubensgemeinschaft isolieren kann. Wie dies auf die aktuelle Islamistendebatte übertragen werden könnte, das können die Leser selbst ableiten, nur die passenden Argumente muss sich jeder dann selbst erarbeiten (was ja durchaus sinnvoll ist). Die von Schleichert beschriebenen Methoden lassen sich übrigens auch auf das politische Tagesgeschäft anwenden, in jedem Fall aber schärfen sie den Blick auf jede Art von Argumentation, weil Schleichert eben die zu Grunde liegenden Mechanismen/Formeln offen legt.
Im ersten Teil des Buchs stellt Schleichert die Logik des Argumentierens und häufige Fehler und Fallgruben dar. Wichtig ist dabei der Hinweis, dass Argumentationsketten oft unvollständig vorgetragen werden, weil die Urheber davon ausgehen, dass Teile der Beweiskette bekannt und/oder unstrittig sind. Ob das stimmt muss in jedem Falle einzeln überprüft werden, denn nur so lassen sich Missverständnisse ausschließen und zusätzliche Angriffspunkte finden. Aber selbst bei vollständiger Übersicht über alle Glieder einer Argumentationskette ist Vorsicht geboten, schließlich kann der Gegner sogenannte "red herings" auslegen, also falsche Spuren/Argumente, die den Kritiker in die Irre führen und damit aushebeln.
Die folgenden zwei Kapitel beschäftigen sich mit Argumenten für und wider von theologischer Intoleranz und Toleranz anhand des Falls des auf Betreiben von Calvin 1553 in Genf auf den Scheiterhaufen verbrannten Gelehrten Servet und der daraus folgenden Kritik am Verhalten Calvins. Das frustrierende Ergebnis dabei ist, dass die Argumente beider Seiten einer gewissen Logik (wie moralisch verwerflich sie auch sein mag, aber das ist ja nur ein subjektiver Blickwinkel) nicht entbehren, aber genauso beide Seiten in der Auslegung der Bibel willkürlich, d.h. nicht logisch sauber vorgehen - weil die Bibel als Grundlage des Glaubens selbst kein in sich schlüssiges Werk ist und daher beiden Seiten Argumente liefert.
Im nächsten Kapitel beschäftigt sich Schleichert dann mit den Unterschieden zwischen sogenannter "interner" und "externer" Kritik. Während die externe Kritik (meist von Außenstehenden geäußert) als Generalangriff auf den jeweiligen Glauben empfunden werden kann und daher oft auf generelle Ablehnung trifft, kann die interne Kritik (meist von Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft formuliert), die auf der teilweisen Anerkennung der religiösen Dogmen beruht und die jeweilige "Untat" als Irrtum oder fehlerhafte Auslegung der (unstreitigen) Glaubensprinzipien verurteilt, auch als grundsätzliche Zustimmung zum Glauben verstanden werden. Welche Kritikform jeweils möglich ist hängt aber von den Machtverhältnissen ab. So wäre zu Zeiten der Hexenverbrennung ein externer Kritiker eher auf dem Scheiterhaufen gelandet als ein interner, während heute interne Kritiker wie z.B. die Herren Küng und Drewermann von der Mehrheit der Bevölkerung eher belächelt werden, weil sie sich an der Auslegung religiöser Dogmen abarbeiten, die viele in der Bevölkerung nicht mehr ernstnehmen, bzw. ganz aus ihrer eigenen Weltanschauung verbannt haben.
Wo ist also der richtige Ansatzpunkt für die Vertreter der Vernunft? Es ist laut Schleichert die Erkenntnis, dass Glaubensgemeinschaften nicht nur aus Fundamentalisten, die die Dogmen ernst nehmen (was an sich nichts Verwerfliches ist!), bestehen, sondern auch aus Mitgliedern, die sich eher opportunistisch verhalten, also religiöse Vorschriften beachten oder missachten, je nachdem wie es ihnen nützt, wobei der Nutzen jeweils ökonomisch, sozial oder metaphysisch sein mag. Die meisten Menschen wachsen als Kinder in einen Glauben hinein und pflegen ihn als Erwachsene aus Gewohnheit, ohne sich je tiefer mit den Glaubensgrundsätzen und ihrer Begründung zu beschäftigen. Dies ist der Ansatzpunkt der Aufklärung, nämlich die Erwachsenen dazu zu bewegen, sich erneut - oder auch erstmalig - mit ihrem Glauben auseinander zu setzen und dabei ihre Gewohnheiten selbstkritisch zu überprüfen, indem die Aufklärer ihnen die dogmatischen Konsequenzen ihres Glaubens vor Augen führen. Schleichert nennt dies die "subversive" Argumentation und er zitiert fleißig Voltaire und andere Aufklärer, die mit Genuss die Widersprüche des Christentums aufdeckten und so ihre Mitmenschen zum Nachdenken zwangen. Implizit geht Schleichert dabei davon aus, dass kein religiöses System in sich widerspruchsfrei ist, gerade schon deshalb, weil sich jede Religion für die einzig wahre hält und "Ungläubige" - und schlimmer noch "Häretiker", also Abweichler von der wahren Lehre, nicht weil sie unwissend sind, sondern weil sie die Wahrheit kennen und trotzdem von ihr abgefallen sind - verfolgt, bzw. Regeln zu deren Unterdrückung bereithält, die Anwendung der diesen gegenüber zulässigen Grausamkeiten aber gegenüber ihren eigenen Anhängern schärfstens verurteilt. Schleichert weist darauf hin, dass solche Kritik und Aufklärung auch heute noch notwendig sind, weil die inhumanen Dogmen von der katholischen Kirche zwar gerne verschwiegen, relativiert und von vielen ihrer Anhänger auch einfach missachtet werden (siehe Abtreibung, Pille, Kondom) aber widerrufen werden sie eben auch nicht, weil dies an den Grundsätzen des Glaubens rütteln und das Papsttum sich damit selbst entmachten würde. Weil diese Regeln weitergelten können sie auch jederzeit wieder angewendet werden, weshalb der Kritiker auch heute noch wachsam sein muss und in seinen Angriffen nicht nachlassen darf, auch wenn die Kirche oberflächlich zurückweicht. Das gilt logischerweise auch für Kritik am Faschismus, Kommunismus und allen anderem Ismen (ja, auch wenn es weh tut, das gilt auch für Anarchismus und Buddhismus).
Gleichzeitig aber warnt Schleichert vor dem Glauben, allein mit der subversiven Kritik das Problem lösen zu können. Denn "Glauben" heißt nicht nur "nicht wissen", sondern vielmehr an etwas festhalten, dass sich weder beweisen noch widerlegen lässt. Damit ist eine Widerlegung der Grundlagen eines Glaubens argumentativ unmöglich. Was aber möglich ist, ist bei den Glaubensanhängern durch Darstellung vergangener Glaubensstreite, die heute fast vergessen sind, und Widersprüchen in den theologischen Texten Zweifel an der Unerschütterlichkeit von Glaubensgrundsätzen zu wecken, und durch Aufzeigen anderer Formen von Glauben und Götterverehrung Unsicherheit zu erwecken, ob die eigene Religion die allein seligmachende ist. Das Ergebnis davon wäre, dass die Entscheidung, was jemand glaubt und was nicht allein bei diesem alleine läge, sozusagend eine reine Geschmacksfrage - über Geschmack lässt sich aber nicht streiten, weil es keinen objektiven Maßstab gibt, an dem richtiger oder falscher Geschmack ermittelt werden kann. Und genau so gibt es keinen "wahren" Glauben, weil sich die Richtigkeit einer Götterverehrung, ja nicht einmal die Existenz von Gott beweisen lässt. Und weil es keinen Beweis gibt, gibt es auch kein Recht jemanden wegen seines (abweichenden) Glaubens zu unterdrücken, berauben oder gar zu verbrennen. Das wäre dann die Toleranz der Vernunft: wo ich etwas nicht beweisen kann muss ich die Meinung des anderen akzeptieren - und dieser muss meine Meinung hinnehmen..
PS: Es hat den Anschein, dass die "Theorie" des "intelligent design", also dass die Evolution zum Menschen ohne gelegentlichen Eingriff eines "Schöpfers" nicht möglich gewesen sei, aus den Methoden der Aufklärung gelernt hat. Aber das bezieht sich nur auf die argumentative Ebene, im Kern dieser Theorie geht es weiterhin um den Glauben an eine interventionistische Gottheit, eine die Wunder bewirken und damit die Naturgesetze außer Kraft setzen kann - und die der Gläubige mittels Gebete, Opfergaben oder auch Voodoo gütig stimmen/beeinflussen/manipulieren kann (aber Gebete funktionieren glücklicherweise ja nicht, weil sonst wäre die Menschheit schon längst ausgestorben bei all den Todeswünschen). Doch mit einer solchen Gottheit kommt der Gläubige immer in Erklärungsnöte bei Naturkatastrophen oder auch dem Holocaust, weil jegliche Sinnsuche dahinter, warum Gott jemanden ein solches Schicksal zugedacht haben könnte nur in Unerklärlichem endet. Nur eine nicht-interventionistische Gottheit lässt sich mit der Wissenschaft in Einklang bringen - auch wenn sich dann die Frage stellt, wozu es eine Gottheit als Erklärung der Entstehung des Universums bräuchte, wenn sie an den bestehenden Naturgesetzen nichts ändert. (Die dritte Glaubensart ist dann der Glaube, selbst zu einer Gottheit aufsteigen zu können (wie im Satanismus von Alistair Crowley, den ganzen OTO-Logen, Scientology und so weiter), wobei sich aber auch hier die Frage stellt, warum Gottheit werden, wenn man eh nichts an den Naturgesetzen ändern kann - auch diese Glaubenslehren funktionieren nur mit der Figur einer interventionistischen Gottheit.)
(2005-09-08)

Albrecht Koch
"Angriff aufs Schlaraffenland. 20 Jahre deutschsprachige Popmusik" (Ullstein. Frankfurt/Main 1987)

Ich weiß, diese Besprechung kommt 18 Jahre zu spät, denn dieses Taschenbuch erschien 1987 bei Ullstein und leider hat der Umschlag es direkt in die Grabbelkiste bugsiert. Wäre es bei dtv, oder besser noch bei rororo, rausgekommen, hätte es sicher mehr Beachtung gefunden. Denn was Albrecht Koch hier bietet ist genau das, was der Untertitel sagt, nämlich ein kenntnisreicher und pointierter Überblick über 20 Jahre deutschsprachige Popmusik, und der einzige Wermutstropfen ist, dass die Analyse eben Mitte der 80er Jahre aufhört.
Das Buch ist in zweierlei Hinsicht verdienstvoll. Zum einen, weil es den Blick auf Rock und Pop (nicht Schlager) in Deutschland richtet und die Musik im Zusammenhang mit der hiesigen gesellschaftlichen Entwicklung beschreibt, während die meisten anderen Autoren (so z.B. Martin Büsser in "Popmusik", Rotbuch Verlag, Hamburg 2000) deutsche Rock- und Popmusik immer nur als Anhängsel englischer und amerikanischer Rock- und Popmusik sehen und sich in der Beschreibung idiotischerweise an den gesellschaftlichen Entwicklungen im Ausland entlanghangeln, anstatt zu überlegen, welche Auswirkungen 1968 und die RAF-Zeit z.B. auf Rockmusik in (West-) Deutschland hatten. Aus der spezifischen gesellschaftlichen Situation Deutschlands entstand neben der ndW eben auch Deutschpunk und sorgte dafür, dass Punk hier länger als in anderen Ländern eine konstante Subkultur aufrecht erhalten konnte (genauso wie Helmut Kohl durch die deutsche Einheit neues Leben eingehaucht bekam - und vielleicht hat das Deutschpunk-Biotop auch die Bands vor dem Wettbewerb mit anderen Musik-Stilen um die Publikumsgunst geschützt und so kreative Erneuerungen verhindert).
Zweitens setzt sich Koch fast ausschließlich mit deutschsprachiger Rock- und Popmusik auseinander und geht auf die Texte ein, zum Teil in einzelnen Gruppen gewidmeten Kapiteln. Das bringt zwar ein bisschen das alte Problem hervor, dass Songtexte unabhängig von der musikalischen Begleitung ihres klanglichen Wertes beraubt sind und damit ihre Wirkung nur unvollständig beschreibbar ist, doch Koch vermeidet offensichtliche Fallen - und schließlich legen Musiker, die ihre Texte auf LP- und CD-Hüllen abdrucken eine solche unabhängige Lesart selbst nahe. Dass bei dieser Lesart manche Idole nicht so gut wegkommen, wie z.B. Wolfgang Niedecken und Udo Lindenberg (vom dem eigentlich nur die LPs von "Daumen im Wind" bis "Wotan Wahnwitz" wirklich erträglich sind und bereits "Sister King Kong" wie eine reine Selbstparodie klingt - und das bereits 1976), andererseits z.B. die Ace Cats mit ihrem klinischen Rockabilly positive Erwähnung finden geht okay, denn Koch unterfüttert seine Meinung mit vielen Zitaten und Argumenten.
Insgesamt ein schönes Buch, von dem man sich eine aktualisierte Neuauflage, die dann wohl 2x250 Seiten hätte, wünschen würde.
(2005-09-01)

Rocko Schamoni
"Dorfpunks" (rororo, 2004)

Es ist die Zeit, in der Menschen um die 40 auf ihr bisheriges Leben zurückschauen, die alten Tagebücher oder sonstige Erinnerungsschnipsel hervorkramen und anfangen zu vergleichen, was sie mal wollten und wo sie jetzt stehen. So ähnlich ging es wohl auch Rocko Schamoni, denn auch wenn "Dorfpunks" mit der Bezeichnung Roman daherkommt scheint es eher eine Art Erinnerung an die eigene Jugend zu sein (Autobiographie fände ich ein bisschen übertrieben, es ist nicht auszuschließen, dass einige Teile frei erfunden statt erinnert sind, und außerdem endet das Buch mit dem Abschluss seiner Töpferlehre). Ich will Euch nicht lange mit einer Nacherzählung des Buchs aufhalten, in dem gegen Ende Alfred Hilsberg, die Goldenen Zitronen und die Toten Hosen auftauchen, dessen Hauptteil aber die Reflektion über eine männliche Jugend auf dem Land ist mit ihren Selbst-Initiations-Ritualen und dem bizarren Eigenleben, dass lokalste Jugendkulturen entwickeln können, die Pubertät mit ihren geistigen Wirrungen, mit extremer Langeweile (yeah, "Terminal Boredom" wie John Lydon auf der ersten PiL-LP nölt) und Zweifeln am Rest der Welt (Erwachsene sind alle Roboter). Jugend, dass ist die Zeit, wo es noch keine eingefahrenen Gleise gibt, auf denen der Zug des Lebens weiterrollen kann und die Verdrängung existenzieller Fragen perfektioniert ist, in der es noch keinen Frieden mit den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft gibt, die mensch als Erwachsener so perfekt verdrängen kann (weshalb ich auch keinem/keiner Deutschen widersprechen würde, der/die seit 1945 sagt, er/sie hätte doch nichts von all den Untaten der Nazis gewusst: denn er/sie hat die mörderischen Ungerechtigkeiten der damaligen Zeit eben perfekt ignoriert und verdrängt - und deshalb liegt seine/ihre Verantwortung nicht darin, nichts getan zu haben, sondern darin die Möglichkeiten zum Wissen nicht ausgenutzt zu haben: jeder wusste dass es Dachau gibt - "halt den Mund sonst kommst du nach Dachau" - aber keiner fragte, was dort geschah, sonst hätten sie hinterher ein schlechtes Gewissen gehabt und nicht mehr ruhig schlafen können - was ja für heute, das Jahr 2005 mit seinen Dutzenden regionalen Kriegen und Massakern, staatlichen Killern weltweit und Ausbeutung durch die multinationalen Konzerne genauso gilt: "hey, lass mich in Ruhe damit, ich will doch nicht enden wie Petra Kelly"). Ich weiß nicht, wie authentisch dieses Buch ist, aber eines weiß ich: es ist wahr.
(2005-01-25)


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