Erik Satie, Zeichnung Jean Cocteau, 1916

"Gebt mir einen Dichter und ich mache daraus zwei Musiker, wovon der eine Liedersänger, der andere Klavierbegleiter werden wird. In kurzer Zeit wird der Liedersänger ein Kabarett - sagen wir auf dem Montmartre - eröffnet haben. Einige Jahre später wird der Klavierbegleiter als Alkoholiker gestorben sein; der Liedersänger dagegen wird ein Fürst, ein Herzog, oder irgend etwas anderes, besseres sein."

Mit dieser Notiz skizziert Satie tatsächlich mit einigen wenigen Pinselstrichen sein eigenes Selbstportrait. Erik Satie war der Dichter, der Komponist, der Liedersänger hätte werden können und sich einen festen Platz in der Welt des französischen Chansons hätte erobern können. Satie betrachtete jedoch die Kabarettwelt, das Café-Concert. als "stumpfsinniger und ekelhafter, als alles andere auf der Welt". Konsequenterweise entschied er sich für eine Karriere als Säufer und Komponist. Er verdiente zeitweise seinen Unterhalt als Klavierbegleiter und starb genauso, wie er es vorhergesagt hatte. Doch verrät sein bescheidenes Lied-Oeuvre, dass er sich als Komponist von der Welt des leichten Chansons, der Welt des Amüsements, wie von einem Magneten angezogen fühlte. Wenn es überhaupt eine Konstante in Saties Werk gibt, dann ist es sein Hang zum Kabarettesken.

Seine ersten Schritte auf dem Pfade der Muse setzte Satie in den Fußspuren - und unter der Obhut - seines Vaters, Alfred Satie. Dieser war Verleger und Komponist leichter Chansons. Er publizierte die ersten Klavierstückchen seines Sohnes - ‘Valse­-ballet‘ und ‘Fantaisie-Valse‘. Auch Erik Saties erste Lieder- ‘Les Anges’, ‘Les Fleurs‘ und ‘Sylvie‘ - wurden von seinem Vater 1887 veröffentlicht. Dieser veröffentlichte sie mit viel Gefühl für Ironie unter dem Titel: ‘Trois Mélodies Op. 20‘. Diese ‘Trois Mélodies‘ nach Texten seines Freundes Contamine de Latour sind - wie auch ‘Élégie‘ und ‘Chanson‘ - Werke, die ganz und gar in die Atmosphäre des französischen Chansons des ausgehenden 19. Jahrhunderts passen: prachtvolle, wehmütige melodische Linien, die ab und zu an Melodien aus der von Satie aufrecht bewunderten Oper ‘Manon‘ von Massenet erinnern.

Im Jahre 1968 wurden ‘Les Anges’, ‘Élégie‘ und ‘Sylvie‘ unter dem Titel ‘Trois Mélodies de 1886‘ neu aufgelegt. ‘Les Fleurs‘ und ‘Chanson‘ fanden zusammen mit ‘Chanson Médiévale‘ (1906) - eine Studie aus der Zeit, in der Satie an der Schola Cantorum Kontrapunkt studierte - einen Platz in ‘Trois autres Mélodies‘.

In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nahm das mystische Interesse Saties nach einer Begegnung mit Joseph Aimé Péladan feste Formen an. Der 25-jährige Satie schloss sich dem Salon de Peinture Rose + Croix (Rosenkreuzler) an und war als Maître de Chapelle des ‘Tiers Ordre esthétique de la Rose + Croix catholique du temple et du Graal‘ verantwortlich für die Musik anlässlich der ‘Gottesdienste‘ und der Theatervorstellungen. In dieser Eigenschaft hatte Satie bei den ‘Fils des étoiles‘ einigen Erfolg mit seinen Préludes für Klavier. In dieser Zeit komponierte er uch die merkwürdige Hymne ‘Salut Drapeau‘. Dieses Lied ist ein Teil eines von Péladan geschriebenen historischen Dramas über Giorgio Cavalcanti, der sich in den androgynen Tonio, Prinz von Tarras verliebt, der sich später als Prinzessin von Tarras entpuppt. Mit dieser Hymne entfernt sich Satie am weitesten von dem Einfluss des französischen Chansons. Sie trägt alle Kennzeichen aus Saties Rose + Croix Periode: quasi-funktionelle Harmonik - im vorliegenden Falle in eine Sequenz von jeweils vierundvierzig Viertelnoten gefasst, die unabhängig vom dramatischen Inhalt des Textes viermal wiederholt werden - und eine kristallene, statische Melodie, auf einem absteigenden griechischen Modus (es-d­-cis-h-as-g-fis-es) basiert.

Diesem religiösen und mystischen Abenteuer folgten Jahre der künstlerischen Krise und der Armut. Was sollte Satie in einer solchen Zeit anderes tun, als sich auf diejenige Welt zu stützen, die er von klein an am besten kannte - die Welt des Kabaretts. Er stürzte sich in das Nachtleben auf dem Montmartre, wo er sich vor allem als Trinker profilierte. Um seinen Unterhalt einigermaßen bestreiten zu können, ließ er sich als Klavierbegleiter von dem Chansonnier Vincent Hyspa anheuern. Satie komponierte auch einige ‘Kaffeehauslieder‘ zu Texten von Hyspa: ‘Un dîner à I’Élysée’, ‘Tendrement’, ‘Chez le docteur‘ und ‘L‘Omnibus-automobile‘. Auch fand in diesen Jahren die kurze, aber um so intensivere Zusammenarbeit mit Paulette Darty statt, der Sängerin, die den schmachtenden Walzer ‘Je te veux‘ zu einem Welterfolg machte. Für sie schrieb Satie Lieder wie ‘AIIons-y Chochotte‘ und ‘La Diva de l‘Empire~ eine raffinierte Mischung aus französischem Chanson und amerikanischem Ragtime.

Seine besten Lieder komponierte Satie in dem letzten Jahrzehnt seines bewegten Lebens. Es ist die Periode, in der Satie einige Anerkennung zuteil wird, in der junge Komponisten sich für sein Werk zu interessieren beginnen und wo große Künstlers eine Mitarbeit suchen. So bat Jean Cocteau um Saties Mitwirkung bei verschiedenen Theaterproduktionen. Picasso und Matisse illustrierten das Programm bei der Premiere der ‘Trois Mélodies de 1916‘- geschrieben auf den Wunsch der Sopranistin Jane Bathori. Das letzte der drei Lieder, ‘Le Chapelier‘ - mit einer deutlichen Verweisung nach Gounods ‘Chanson de Magali‘ aus der Oper ‘Mireille‘ - widmete Satie Igor Stravinsky.

In den ‘Trois poèmes d‘amour‘ aus dem Jahre 1914 ist Saties so kennzeichnende milde Ironie bereits voll und ganz anwesend. "Diese Gedichte sind Liebesgedichte über die Liebe (...)" schreibt Satie über seine eigenen Texte. "Es sind glückselige, einfache Blätter. in denen man alle Zärtlichkeit eines tugendhaften Mannes mit guten Manieren erkennen kann. Sie können ohne Furcht zuhören." Diese drei Miniaturen - jedes Lied ist nicht Iänger als acht Takte - sind bei näherem Zuhören weniger simpel als man zunächst meinen möchte. Für das Lied ‘Ta parure est secrète‘ benötigte Satie nicht weniger als dreizehn Versionen, bis er die ideale Version auf dem Papier hatte: erhabene Distanz, gegossen in ein Minimum an Noten. Diese kühle Distanziertheit erhält in ‘Socrate’, einem symphonischen Drama, seine konsequenteste Form. Nur in ‘Elégie‘ aus ‘Quatre petites Mélodies‘ (1920) lässt Satie einige persönliche Emotion zu. Dieses Werk ist dann auch zur Erinnerung an Saties Freund, Claude Debussy (1862-1918) geschrieben, und es erschien in einer Ausgabe von ‘La revue musicale’, die Debussy gewidmet war.

Mit ‘Ludions’, seinem letzten Beitrag an das Lied, kehrt Satie mit wahrer Meisterhand zurück zum Stil des ‘Café-Concert‘. Die Texte von ‘Ludions‘ stammen aus der Hand des genialen Dichters Léon-Paul Fargue, dessen ‘La statue de Bronze‘ (Trois mélodies de 1916) Satie bereits eher vertont hatte. Das älteste Gedicht dieses fünfteiligen Zyklus, ‘Air du Rat’, schrieb der Dichter im Alter von zehn Jahren. Satie erreicht mit seiner fröhlichen Mischung von Ernst und Ironie, von Chanson und Melodie ein großartiges Gleichgewicht zu den merkwürdigen Wortspielen des Dichters. Es scheint, als ob der Komponist sein eigenes Band mit dem Chanson in einem Spiegel betrachtet.

Doch zurück zu ‘Elégie‘: "Schon als ich ihn das erste Mal sah, fühlte ich mich zu ihm hingezogen, und ich begehrte, für immer an seiner Seite zu leben. 30 Jahre lang hatte ich das Glück, daß sich mein Wunsch erfüllte. Wir verstanden uns ohne viel Worte, ohne komplizierte Erklärungen, so, als ob wir uns scheinbar schon immer gekannt hätten" schrieb Satie in Erinnerung an seinen verstorbenen Freund und brachte in ‘Elégie‘ seinen Schmerz über den Verlust seines geschätzten Freundes musikalisch zum Ausdruck. Saties Liebe zu Débussy war, soweit bekannt, rein platonisch; die beiden scheinen eher so etwas wie künstlerische Brüder denn Freunde gewesen zu sein. Über Erik Saties Sexualität gibt es verschiedene Ansichten. Ein Psychologe vermutet, Saties paranoides Verhalten sei durch eine verdrängte und unterdrückte Homosexualität verursacht. Jedenfalls bevorzugte Satie die Gesellschaft von jungen Künstlern und schrieb Musik für gewagte theatralische Szenen über Androgyne und Transvestiten. Satie machte sich ein besonderes Vergnügen daraus, den Orgien der Tänzerin Caryathis beizuwohnen, wobei Satie aber darauf bedacht war, körperlich nicht einbezogen zu werden. Allerdings missbilligte er die Aktivitäten in Jean Cocteaus schwuler Umgebung, und Cocteaus Freunde und andere Schwule, die ihn kannten, waren der Überzeugung, Satie sei ein asexueller Voyeur und bestenfalls zu platonischer Liebe fähig gewesen. Gut zwanzig Jahre nach seinem Heiratsantrag an Suzanne Valadon schrieb Satie in einem Brief darüber: "Ich bin ein Mann, der Frauen nicht versteht."

"Ein jeder wird Ihnen versichern, dass ich kein Musiker bin. Das ist richtig. Seitdem aller ersten Beginn meiner Karriere habe ich mich zu der Gruppe der Phonometrographen gerechnet. Was ich tue, ist reine Phonometrie. Nehmen Sie zum Beispiel mein ‘Fils des Etoiles’ oder mein ‘Morceaux en forme de poire’, das ‘En Habit de cheval‘ oder die ‘Sarabandes‘. Es ist deutlich, dass bei diesen Kompositionen musikalische Ideen überhaupt keine Rolle spielen. Überall überherrscht der wissenschaftliche Aspekt. Ich habe übrigens viel mehr Freude daran, einen Ton zu messen, als ihn zu hören. Mit dem Phonometer zu arbeiten ist nicht nur sehr genau, sondern ist auch ein reines Vergnügen. Es ist faszinierend! Als ich meinen Phonometer zum ersten Mal gebrauchte, hatte ich mir die Aufgabe gestellt, ein ‘B‘ von mittlerer Größe zu untersuchen. Ich kann Ihnen versichern, dass ich noch nie etwas scheußlicheres gesehen habe. Auf der Klangwaage wog ein ganz gewöhnliches, mittelmäßiges ‘Fis‘ dreiundneunzig Kilogramm! Es kam von einem außergewöhnlich dicken Tenor, den ich hernach auch noch auf die Wage stellte."

Diese Beschreibung seiner täglichen Arbeit stammt aus den ‘Erinnerungen eines Vergesslichen’, Saties eigene Rubrik in der Zeitschrift ‘Révue de Ia Société Internationale de Musique‘ aus dem Jahre 1912. Zu dieser Zeit beginnt Satie einigen Ruf in intellektuellen Kreisen in Paris zu erlangen. Maurice Ravel hatte 1911 einige der Werke seines zehn Jahre älteren Freundes während eines Konzertes der Société Musicale Indépendante aufgeführt. Im selben Jahre dirigierte Debussy eine Orchesterversion der ‘Gymnopédies‘ Nr. 1 und Nr. 3. Im Jahre 1912 erhielt Satie zum ersten Mal von einem Musikverleger den Auftrag, ein Stück für Klavier solo zu schreiben. Von dem Resultat, den ‘Préludes flasques pour un chien‘ (Schlaffe Präludien für einen Hund) war der Verlag wenig begeistert und Satie versuchte es aufs Neue mit den ‘Véritables Préludes fiasques pour un chien‘ (Wirklich schlaffe Präludien für einen Hund). Diesmal mit Erfolg. In den Spielanweisungen in lateinischer Sprache, wie ’corpulentus’, ‘caeremoniosus‘ und ’substantialis‘ verweist er mitaugen­zwinkerndem Selbstspott nach seiner Studienzeit auf der Scola Cantorum. Die ‘Véritables Préludes fiasques pour un chien‘ wurden kurze Zeit später von dem spanischen Pianisten Riccardo Viñes uraufgeführt. Satie war von diesem Pianisten, der eine solch unwiderstehliche Art von komisch­geheimnisvollem Klavierspiel hatte, sehr beeindruckt.

Die ‘Préludes ‘gehören zusammen mit den ‘Descriptions automatiques‘ (Automatische Beschreibungen) zu der Gattung der ‘humoristischen Klaviersuiten‘. In diesen Kompositionen finden wir einen Satie, so wie wir ihn am Liebsten mögen: ein Humorist und Parodist mit einer märchenhaften Phantasie. Er ist der Vorbote des Surrealismus, der eigentlich erst 1924 mit dem Manifest von André Breton Gemeingut werden sollte. Dieser Vor-Surrealismus schimmert auch in den ‘Sieben Tänzen für Jonah, den Affen‘ in Saties komischem Einakter ‘Le Piège de Méduse‘ (Die Falle der Medusa) durch. Satie hatte inzwischen seine mystische Periode weit hinter sich gelassen. Er kleidet sich wie ein Gentleman, mit Stehkragen, Melone und Regenschirm. Seine Kompositionen würzt er mehr und mehr mit milder Ironie. Nur die kaum bekannten Studienwerke aus der Zeit seiner Kontrapunktstudien an der Scola Cantorum (1906-1908) lassen noch einen einigermaßen ‘seriösen‘ Komponisten erkennen, der sich mit der schweren Last der Musikgeschichte herum quält und gleichzeitig seinen eigenen Stil zu finden sucht. Im Jahre 1968 publizierte Robert Caby ‘Musiques intimes et secrètes‘ (1906-1913), ‘Six pièces de Ia période 1906-1913’ und das ‘Carnet d‘Esquisses et de Croquis‘ (Notizbuch mit Skizzen und Entwürfen) mit Werken aus den Jahren 1897-1914. Obwohl die achtundzwanzig kurzen bis sehr kurzen Stücke nicht zu Saties Meisterwerken gehören, lässt sich an ihnen der Übergang von seiner Kabarettperiode über sein Kontrapunktstudium hin zu den Werken, in denen er die Schwerleibigkeit des deutschen Expressionismus Wagners, sowie die leichtfüßige Ernsthaftigkeit des französischen Impressionismus zu relativieren beginnt. Dies beginnt mit Stücken wie ‘Désespoir agréable‘ (Angenehme Verzweiflung) und ‘Fâcheux Exemple‘ (Unangenehmes Beispiel), setzt sich fort in Stücken wie ‘Froide songerie‘ (Kalte Träumerei), mit seiner quasi-unbeholfenen Chromatik, und den bizarren Schlusstakten von ‘Sur un Pont‘ aus den ‘Nouvelles Pièces froides‘ (Neue kalte Stücke), sowie den archaischen Ouintparallelen der ‘Deux Rêveries nocturnes‘.

In ‘Aperçus désagréables‘ (Unerfreuliche Übersichten) und ‘En Habit de cheval‘ (In Reitkleidung) erreicht Satie eine ideale Synthese seiner rätselhaften Harmonien mit seinen neu erworbenen kontrapunktischen Fertigkeiten. Offenbar war dies auch die Meinung des Komponisten selbst: diese Klavierduette sind die einzigen Werke Saties, die direkt veröffentlicht worden sind. Die ansprechenden und helltönenden ‘Aperçus désagréables‘ lassen auf unnachahmliche Weise sehen, mit welcher Subtilität der Komponist auszudrücken imstande ist: "Bevor ich ein Stück komponiere laufe ich erst einige Male, in Begleitung von niemand anderem, als mir selbst, um das Stück herum". So jedenfalls schreibt Satie mit ebensoviel Ironie wie Stolz im Katalog seines Verlegers.

Hier führt ein Satie das Wort, der sein Ansehen ständig steigen sieht. Dies nicht nur in Arcueil, wo er für lokale Zeitungen schreibt und sich intensiv mit der ‘Patronage Laïque d’Arcueil’ einer Wohltätigkeitsorganisation für arme Kinder, beschäftigt, sondern auch in den intellektuellen Kreisen zu Paris, dem tonangebenden Ort, wo die jeweilige künstlerische Mode bestimmt wird. Es ist ein Satie, der mit an Überheblichkeit grenzendem Selbstvertrauen sagen kann: "Möge dem Armseligen, der mich übersieht, die Zunge verbrennen und das Trommelfell platzen!"

"Im Leben eines Künstlers muss Ordnung herrschen. Hier ist die exakte Zeiteinteilung meiner täglichen Aktivitäten: Aufstehen: 7.18 Uhr. Inspiration: von 10.23 Uhr bis 11.47 Uhr. Ich esse zu Mittag um 12.11 Uhr und stehe um 12.14 Uhr vom Tisch auf. Aus gesundheitlichen Gründen folgt ein Ritt zu Pferd: 13.19 Uhr bis 14.53 Uhr, hinten in meinem Park. Wieder Inspiration: von 15.12 Uhr bis 16.07 Uhr. Danach verschiedene Beschäftigungen (fechten, nachdenken, Unbeweglichkeit, Kontemplation, Behändigkeit, schwimmen usw.): von 16.21 Uhr bis 18.47 Uhr. Das Abendessen wird um 19.06 Uhrserviert und ist spätestens um 19.20 Uhr beendet. Danach folgt symphonische Lektüre (laut): von 20.09 Uhr bis 21.59 Uhr. Gewöhnlich gehe ich um 22.37 Uhr zu Bett. Einmal wöchentlich (dienstags): plötzliches Erwachen um 3.19 Uhr."

Diesen minutiösen Stundenplan veröffentlicht Satie im Jahre 1913 in der ‘Révue de la Société Internationale de Musique‘. Er schreibt dies zu einer Zeit, in der tatsächlich einige Ordnung und ein gewisses Regelmaß in sein kreatives Leben gekommen zu sein scheint. Endlich wird er als bedeutender Faktor der modernen französischen Musik anerkannt. Die junge Komponistengeneration - Darius Milhaud, Francis Poulenc, Georges Auric - trägt Satie auf Händen, und sogar der allgegenwärtige Jean Cocteau zeigt großes Interesse. Nachdem dieser im Jahre 1915 die ‘Trois pièces en forme de poire’ gehört hatte, wollte er Satie für seine neue Produktion von Shakespeares ‘Sommernachtstraum‘ engagieren. Das Projekt kam leider nicht auf Gang und so sind die ‘Cinq Grimaces pour "Le songe d’une nuit d‘été"’, die nach seinem Tode in seiner Nachlassenschaft gefunden wurden, der einzige Beweis für solche Pläne. Die Kombination von kabarettesken Aspekten, strenger Harmonie und humorvoller Relativierung machen diese Stücke zum Vorläufer des aufsehenerregenden Total-Theaters ‘Parade‘ aus dem Jahre 1917.

Satie hatte sich innerlich und äußerlich gefestigt und in sehr kurzer Zeit entstand der wohl wichtigste Teil seines Klavierwerkes, die ‘humoristische Klaviersuiten’. In den Jahren zwischen 1913 und 1916 konnte man Satie täglich in dem Pariser Café ‘Chez Tulard‘ bei seiner Arbeit - beim Komponieren - antreffen. "Meistens erschien er gegen elf Uhr, bestellte etwas zu trinken, rauchte seine Zigarren, hielt ein Schwätzchen mit anderen Gästen, um plötzlich sein Notizbuch zum Vorschein zu holen und mit seiner Arbeit zu beginnen. Seine Umwelt völlig vergessend füllte er das Papier langsam mit zierlichen Noten. Zufällig vorbeikommende Freunde konnten ihn in diesem Zustand grüßen, soviel sie wollten - er antwortete nicht. Aber am nächsten Tage bezichtigte er sie allesamt schlechter Manieren" weiß sein Bruder, Conrad Satie, zu berichten.

Im ‘Chez Tulard‘ komponierte Satie viele Klavierstücke, die mehr ihrer phantastischen Titel, als ihres musikalischen lnhaltes wegen, berühmt geworden sind: ‘Embryons desséchés (Verdorrte Embryos), ‘Croquis et agaceries d’un gros bonhomme en bois‘ (Skizzen und Gehässigkeiten eines dicken hölzernen Kerls), ‘Chapitres tournés en tous sens’ (In alle Richtungen gedrehte Kapitel), ‘Vieux sequins et vieilles cuirasses’ (Alte Waffen und Harnische), ‘Heures séculaires et instantanées‘ (Uralte und kurze Stunden), ‘Avant-dernières pensées‘ (Vorletzte Gedanken) und ‘Les Trois Valses distinguées du précieux dégoûté‘ (Drei ausgezeichnete Walzer von köstlicher Geschmacklosigkeit).

Diese Stücke sind - unter dem Einfluss seines Kontrapunktstudiums - viel melodiöser als seine früheren Kompositionen, die Harmonik ist viel weniger dominant. Auch fühlt er sich endlich in der Lage, Teile der Musikhistorie in seine Kompositionen einzubeziehen. So sind die Impressionisten Debussy und Roussel deutlich in den ‘Avant-dernières pensées‘ anwesend. Im ersten Teil des ‘Croquis et agaceries...’, dem ‘Tyrolienne Turque’ taucht plötzlich eine Phrase aus Mozarts ‘Rondo à la Turca‘ auf. In dem ‘d‘Ediophtalma‘ aus den ‘Embryons desséchés‘ stiftet er einige Verwirrung durch unter ein Fragment des Trauermarsches aus der Sonate in b-molI, op. 35 von Chopin die Worte zu schreiben: ‘Zitat aus der berühmten Mazurka von Schubert‘.

Obwohl der Text eine immer größere Rolle in Saties Werken zu spielen beginnt, rät er das Vorlesen der Texte während der Aufführung ab. In ‘Heures séculaires et instantanées ‘glaubt er diesbezüglich sogar eine ‘Warnung‘ anbringen zu müssen. Die quasi-wissenschaftlichen Beschreibungen der ‘Embryons desséchés‘ -‘das Podophtalma ist ein kundiger und unermüdlicher Jäger. Es ist in allen Meeren zu Hause. Das Fleisch des Podophtalmas ist genießbar‘ - und die naiven, beinahe moralisierenden Geschichten in den ‘Enfantines‘ und ‘Nouvelles Enfantines‘ sind für Saties Kunstauffassung unentbehrlich.

In ‘Sports et Divertissements‘ (Sport und Erholung) geht die Integration verschiedener Kunstformen noch weiter. Saties musikalische Miniaturen und seine ‘spleenigen‘ spottenden Texte bilden eine Begleitung zu den kubistischen Bildern von Charles Martin. Ursprünglich hatte der Verleger, Lucien Vogel, Stravinsky gefragt einige kurze Stücke zu den zwanzig Illustrationen Martins zu komponieren. Lgor Stravinsky jedoch, dessen Name durch einige spektakuläre Uraufführungen -‘Feuervogel‘ und ‘Le Sacre du Printemps’ ‚ - weithin bekannt geworden war, weigerte sich, da er die angebotene Bezahlung zu gering fand. Satie dagegen war dermaßen erschrocken über die Höhe des angebotenen Betrages, dass er den Auftrag erst akzeptierte, nachdem der Preis halbiert worden war. Komponieren war schließlich eine sakrale Angelegenheit und nicht ein ‘Job‘ zum Geldverdienen. Der Auftrag brachte ihm immerhin noch ungefähr dreitausend Franc ein. Für diese Belohnung versah der Komponist dann auch die stilvollen Bilder des Malers mit seinen wohl besten kurzen Klavierstücken und den treffendsten Texten. Die springlebendige, virtuose Musik des zehnten Teiles, ‘Le Golf‘ (hören wir hier nicht ‘Tea for Two‘?), hat als Begleittext: "Der Kolonel ist gekleidet in schottischem Tweed von einem gewalttätigen Grün. Er wird gewinnen! Sein Caddy trägt ihm die Taschen hinterher. Die Wolken sind überrascht. Die ‘holes‘ zittern vor Angst: "Der Kolonel ist hier!" Jetzt vollführt er - der Kolonel - eine elegante Drehung und... sein Club birst in tausend Stücke!"

Ein anderes Beispiel ist der am 15. Mai 1915, morgens ‘auf nüchternen Magen‘ komponierte ‘Choral lnappétisant‘ (Unappetitlicher Choral). Hierzu schreibt Satie mit hochmütiger Ironie: "Mein Rat: mit einem freundlichen und lächelnden Finger durch dieses Buch zu blättern; es ist ein Werk der Phantasie. Für die Verschrumpelten und Abgestumpften habe ich einen passenden Choral geschrieben. Ich habe alles an Langeweile, das ich mir vorstellen kann, hineingestopft. Ich widme diesen Choral all jenen, die mich nicht mögen."

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Erik Satie, Signatur

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Erik Satie: homepage | JAZCLASS : About Erik SATIE - the eccentric Impressionist French composer and musician
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