Erik Satie, Selbstportrait

"Es gibt keine Satie-Schule. So etwas wie ‘Satie­-ismus wird es niemals geben. Ich wäre dagegen. Jede Form von Sklaverei hat in der Kunst nichts zu suchen. Ich habe immer versucht, Nachäffer von mir ab zuschütteln und sie bei jedem neuen Stück aufs neue nach sowohl der Form, als dem Inhalt raten zu lassen. Dies ist die einzige Methode, wie ein Künstler vermeiden kann, zum Schulmeister zu werden."

Dies schrieb Satie im Jahre 1917, zu einer Zeit. in derer - nicht zuletzt durch sein Ballett ‘Parade‘ - auf dem Höhepunkt seines Pariser Ruhmes stand. Die Jugend - vereinigt in der ‘Groupe Les Six' - sah in ihm einen Mentor und ein Vorbild.

Jahrelang hatte man in Erik Satie ausschließlich den Sonderling, den weltfremden Narren gesehen, der täglich den sechs Kilometer langen Weg von seinem Wohnort Arcueil ins pulsierende Kunstzentrum von Paris - Montmartre und Montparnasse - zu Fuß ablegte. an seiner unverwechselbaren schwarzen Melone, seinem Regenschirm und seinem Kneifer bereits von Weitem erkennbar. Er war nur einem sehr kleinen Kreise bekannt. "Während meiner ganzen Jugend hieß es immer: ‘Wenn du einmal fünfzig bist, wirst du schon sehen‘. Jetzt bin ich fünfzig, aber gesehen habe ich noch nichts!" äußerte Satie auf seine unverwechselbare, melancholisch-­ironische Weise in seinem fünfzigsten Lebensjahr. Dass seine Geduld nur noch ungefähr ein Jahr auf die Probe gestellt werden sollte, konnte der Komponist zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Sein großer internationaler Durchbruch erfolgte tatsächlich im Jahre 1917.

Vordem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, der auch Paris in seinem Würgegriff hielt, entwickelte sich der Kontakt zwischen Satie und Jean Cocteau zu einer immer fruchtbareren Zusammenarbeit. Ein erstes gemeinsames Projekt - Shakespeares ‘Midsummer Night‘s Dream‘ - scheiterte. Im Jahre 1915 jedoch bat der Dichter, Dramaturg und - nicht zuletzt Unterhalter - Cocteau Erik Satie um seine Mitarbeit bei dem Ballett ‘Parade‘. Léonide Massine sorgte für die Choreographie bei dem - inzwischen weltberühmten - Ballets Russes von Serge Diaghilev. Bühnenbild und Kostüme kamen von einem jungen Maler, der sehr bald kometengleich seinen Platz in der Kunstgeschichte erobern sollte: Pablo Picasso.

Nach Cocteaus Meinung war Satie die geeignete Persönlichkeit, die imstande sein würde, "einen musikalischen Hintergrund zu schaffen, der zu solch suggestiven Geräuschen, wie Sirenen, Schreibmaschinen, Flugzeugen und Generatoren passte". Satie ließ sich nicht zweimal bitten und schrieb eine Komposition, die exemplarisch für den Stil seines letzten Lebensjahrzehntes werden sollte: eine Integration aller Stile und Formen, mit denen er sich im Laufe seines Komponistenlebens auseinandergesetzt hatte. Verquere, trockene Ostinati, augenzwinkernde Anklänge an das Kabarett und Ragtime machen sich in ‘Petite fllle Américaine‘ und ‘Acrobates‘ den Vorrang streitig. ‘Parade‘, dass den Untertitel Realistisches Ballett in einem Bild trägt, dagegen beginnt mit einem feierlichen, beinahe bitteren Choral, der deutlich die Atmosphäre seiner Rosenkreuzlerperiode atmet. Mit seinem folgenden ‘Prélude du rideau rouge‘ beweist Satie mit einer echten Fugenexposition, dass seine Ausbildung an der Schola Cantorum nicht umsonst gewesen war. Diese Fuge kehrt in der abschließenden ‘Suite au Prélude du rideau rouge‘ wieder. Den Abschluss dieses ‘ballet réaliste‘ bildet eine ebenso zierliche, wie ironische Kadenz in C-Dur.

Saties Musik wird Diaghilews Forderung nach der Gleichberechtigung aller Künste bei der Produktion eines Balletts gerecht, indem sie sich nicht in den Vordergrund drängt. Mit ihren melodisch und rhythmisch eintönigen Klangbändern schuf der Komponist, wie er selbst sagte, einen "tapis résonnant", also einen Hintergrund für die futuristischen Geräusche dieser Partitur: Pfützengeräusche, ein Lotterierad, Schreibmaschinengeklapper, eine elektrische Klingel, Dampfgeräusch, Revolverschüsse und Dynamogeräusche. Diese verarbeitete er aber nicht in eine neue Musik, sondern setzte sie seiner Hintergrundmusik unverändert auf. Parade, dass sich vor einer Jahrmarktsbude abspielt und von Cocteau als kubistisches Ballett konzipiert wurde, brachte mit Picassos Figurinen den Kubismus auf die Ballettbühne. Ob Saties Musik als kubistisch bezeichnet werden kann, ist allerdings eher fragwürdig. Man kann sie allenfalls als neoklassizistisch mit Jazzelementen und Geräuschen beschreiben.

Das Publikum, völlig unvorbereitet auf diese ‘einfachen‘ Klänge, reagierte entsetzt bei der Première am 18. Mai 1917 im Théâtre Châtelet. Nach der Meinung der Besucher waren Picasso, Cocteau und Satie kein bißchen besser als die ‘boches‘. Die freundlichste Qualifikation aus dem Publikum war: "Hätte ich gewusst, dass das Stück so albern ist, hätte ich die Kinder mitgenommen."

Für Satie war diese negative Publizität ein wahrer Genuss. Auf einen Schlag gehörte er mit zu den meist besprochenen Künstlern Frankreichs. Der Komponist hatte seinen Dreh gefunden. Aber obwohl Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honneger, Germaine Tailleferre, Darius Milhaud’ und Francis Poulenc (Les Six) gerade in der Leichtigkeit von ‘Trois petites pièces montées‘ und in der kabarettesken Fröhlichkeit seiner fantaisie sérieuse ‘La belle excentrique‘ - Werke, die Satie, wie auch ‘Parade‘ später für Klavier vierhändig bearbeitete - einen Geistesverwandten zu erkennen glaubten, bediente sich der ehemalige französische Sonderling immer mehr der Waffe des reinen Ernstes.

Sein Stück ‘Parade‘ war das definitive Ende einer Periode, in der ausschließlich das Klavier dem Ausdruck seiner Gedanken diente. Bereits im Jahre 1914 hatte er ein - lange Zeit unterschätztes - Kammermusikstück für Klavier und Violine geschrieben: ‘Choses vues à droite et à gauche (sans Iunettes)‘. Es folgten nur noch einige wenige Stücke für Klavier allein, die ‘Sonatine Bureaucratique", die fünf ‘Nocturnes‘ und das ‘Menuet‘ und in gerade diesen Werken distanziert sich Satie völlig von den üblichen teils witzigen, teils ironischen Titeln und Beischriften. In der ‘Sonatine Bureaucratique‘ - im selben Jahr wie ‘Parade‘ komponiert -spielen Text und Humor noch eine bedeutende Rolle. Dieses neo-klassische Werk ist nach der Sonate Op. 36, Nr. 1 von Clementi modelliert. "Eine einfache Anleihe... nicht mehr. Man muss nichts anderes dahinter suchen, als eine Laune (...)."

Einerseits ist dieses Stück eine gewaltige Nachahmung - Satie gelingt es immerhin, innerhalb von 3 Minuten eine komplette Sonate zu präsentieren, mit einem ersten Satz in Sonatenform, einem langsamen Mittelsatz und einem virtuosen Schlusssatz - anderseits ist diese Sonate der Vorbote einer Rückkehr zu einem stark klassisch orientierten Formgefühl.

Im ‘Menuet‘ findet sich keinerlei springlebendige Fröhlichkeit, sondern introvertierte Bedachtsamkeit. Vor allem in den ‘Nocturnes aus dem Jahre 1919 präsentiert sich der Klassizismus in seiner nackten Form; völlig entblößt von jedem außermusikalischen Augenzwinkern und ohne exzentrische Titel, einfach und melodiös, jedoch kompromisslos in seiner Abweisung jeglichen sinnlichen Genusses. Es ist reine, objektive Musik, eigentlich völlig unromantisch für ein Werk mit der romantischen Bezeichnung ‘Nocturnes‘. Wer jedoch genauer hinhört, wird in den ständig fort­laufenden Akkordbegleitungen zweifellos die Quellen seiner Inspiration, nämlich Frédéric Chopin und John Field, heraushören können.

"Beim Schreiben dieses Werkes wollte ich der Schönheit von Platos Dialogen absolut nichts hinzufügen: es handelt sich hierbei vielmehr um eine Tat der Pietät, die Träumerei eines Künstlers, um eine bescheidene Ehrbezeugung (...). Die Ästhetik dieses Werkes liegt in seiner Deutlichkeit, begleitet und geleitet von Einfachheit, beschlossen. Das ist alles: nichts anderes habe ich gewollt."

In seinem Vorwort zu ‘Socrate’ ein ‘drame symphonique‘ aus den Jahren 1917/1918 gibt sich Satie äußerst bescheiden. Inzwischen gilt dieses dreiteilige Werk - sein längstes - als sein Meisterwerk.

‘Socrate‘ entstand im Auftrag der Prinzessin de Polignac, eine Dame amerikanischer Herkunft, die sich in Paris als eine wahre Beschützerin moderner Kunst aufwarf. Sie erteilte diesen Auftrag auf Wunsch der Sopranistin Jane Bathori, für welche Satie früher bereits die ‘Trois Mélodies de 1916‘ komponiert hatte. Seine - inoffizielle -Premiere erlebte das Werk am 24. Juni 1918 im Salon der Prinzessin de Polignac. Dabei begleitete Satie die Sopranistin selber am Klavier. Die spätere, definitive Podiumsversion des Stückes für vier Soprane, Flöte, Oboe, Englischhorn, Klarinette, Fagott, Horn, Trompete, Harfe, Pauken und Streicher erlebte seine Uraufführung erst am 7. Juni 1920.

Die distanzierte Ernsthaftigkeit von ‘Socrate‘ bildet einen merkwürdigen Gegensatz zu seinen kompositorischen Seitensprüngen in die Welt des Kabaretts und amerikanischer Amusementsmusik - zum Beispiel ‘Parade‘. Satie sah vor der Premiere bereits Zeitungen voll von Kritik voraus. Er empfing das nichtsahnende Publikum mit einer groben Warnung: "Diejenigen, die das Werk nicht begreifen, bitte ich zumindest eine passende, demütige Haltung anzunehmen". Diese Warnung bekamen viele Kritiker in die falsche Kehle und das Werk wurde als ‘impotent und völlig nichtssagend‘ verurteilt.

Wie gewöhnlich interessierten diese Qualifikationen Satie überhaupt nicht. Zudem war er während seiner Arbeit an ‘Socrate‘ von einem bis dahin ungekannten Glücksgefühl erfüllt gewesen. Selten in seinem Leben war der Komponist so überschwänglich gewesen, wie bei den Vorbereitungen zu diesem Drama. In einer ekstatischen Anwandlung von Freude schrieb er: "Ich habe eine ausgezeichnete Übersetzung gefunden. Die von Victor Cousin. Plato ist ein perfekter Mitarbeiter: sehranständig und unproblematisch. Es ist traumhaft! Ich schwimme im Glück. Endlich bin ich so frei wie Luft, wie Wasser, wie ein wildes Schaf. Lang lebe Plato! Lang lebe Victor Cousin! Ich bin frei! Vollkommen frei! Was für ein Glück!"

Das Werk besteht aus einer Fassung dreier berühmter Dialoge aus Platos ‘Symposion‘. Obwohl Satie die Übersetzung von Cousin intakt ließ, kürzte er die Dialoge so ein, dass der philosophische Inhalt da von in den Hintergrund verdrängt wurde. Übrig blieb ein Portrait von Plato, gesehen mit den Augen eines seiner Bewunderer. Im ersten Teil, ‘Portrait de Socrate’, lobt Alkibiades die persönliche Ausstrahlungskraft des weisen Sokrates. Der zweite Teil, ‘Les Bords d’Illissus’, besteht aus einem Zwiegespräch zwischen Sokrates und Phaedros während eines Spazierganges am Fluss. Im dritten, längsten Teil, ‘Mort de Socrate’, erzählt Phaedros, wie der verurteilte Sokrates den Giftbecher trinkt und in serener Ruhe seinen letzten Atem aushaucht.

Der gesamte Aufbau des Stückes scheint sich auf diesen Moment zuzuspitzen. Von Anfang an schlängelt sich die Melodie, eine Art Sprechgesang, (‘récit, en Iisant‘ schreibt Satie vor) über einer - das eine Mal bewegt auf- und nieder bewegenden, das andere Mal in eiskalter Unbewegtheit verharrenden - Basisharmonik. Das Quartintervall spielt hierin eine zentrale Rolle und erhält in ‘Mort de Socrate‘ sogar das Gewicht eines Leitmotivs. Hier wird Sokrates durch einen ständig zurückkehrenden Tetrachord (e-fis­g-a) wiedergegeben. Zum Schluss schleicht sich der Tod in der Form einer kahlen, repetierenden Quart (e-a) in den Körper des Weisen. Das Werk löst sich schließlich im Nichts - einem einsamen fis - auf. Ein einziger Ton, der keine Perspektive mehr bietet und der gleich einem Fragezeichen im Raum stehen bleibt.

‘Socrate‘ ist Musik ohne Freude und ohne Traurigkeit. Die größte Emotion erreicht Satie mit den einfachsten Mitteln. Hiermit realisiert der Komponist endlich den ‘simpIisme’, wonach er Zeit seines Lebens gestrebt hatte. Alles Überflüssige ist abgeschnitten. Was bleibt, ist ein zeitloses Werk, das in zwanzig oder in hundert Jahren noch ebenso originell ist, wie zu Zeiten seiner unbegriffenen Premiere.

Wie groß Saties Entwicklung als Komponist gewesen ist, lässt sich an der Komposition ‘Geneviève de Brabant‘, einer Komposition aus dem Jahre 1900, die erst nach seinem Tode entdeckt wurde, ablesen. ‘Geneviève de Brabant’ ist ein Theaterwerk in drei Akten. Der Text ist von Lord Cheminot (Pseudonym für Contamine de Latour) und ist wahrscheinlich für das Schattenspieltheater auf dem Montmartre geschrieben. Saties Freund de Latour verfasste eine ziemlich bizarre Bearbeitung der Legende, worin die Frau des Pfalzgrafen Sifroy des Ehebruchs bezichtigt, und schließlich zu unrecht verurteilt wird. Sie findet endlich ihr wahres Glück im Glauben und stirbt als geläuterter Mensch. Satie schrieb die Theatermusik für Solostimmen, Chor und kleines Orchester. Wie das ebenfalls in seinem Nachlass gefundene Werk ‘Jack in the Box’ und einige, nur als Skizzen existierende Pläne für eine Oper in drei Akten, wurde auch ‘Geneviève de Brabant’ niemals veröffentlicht. Alles, was zu Saties Lebzeiten in die Öffentlichkeit kam, war die ‘Petite Air de Geneviève‘ aus dem dritten Akt. Der Komponist gebrauchte dieses Fragment in ‘The Dreamy Fish‘. Nach Saties Tod orchestrierte ein ‘Schüler‘ aus der Ecole d’Arcueil, Roger Désormière, das überlieferte Manuskript. Erst im Jahre 1983 wurde eine von dem Satie-Forscher Ornella Volta rekonstruierte Version des vollständigen Marionettespiels am Teatro la Fenice in Venedig uraufgeführt.

‘Geneviève de Brabant‘ lässt einen experimentierenden Komponisten hören, jemanden, der sein Heil in folkloristischen Melodie formen in Kombination mit debussianischer Erhabenheit sucht. In launischen Rhythmen, voller unerwarteter Wendungen, seltsamen Pausen und hastigen Fortsetzungen. Es ist das Werk Saties aus einer Periode, in der er seine Unsicherheit hinter Humor und Ironie zu verbergen trachtete. Erst als er zwanzig Jahre später auf diese Elemente verzichten konnte, und im Stande war, seinen reinen und objektiven ‘Socrate‘ zu schreiben, war Satie fähig auszudrücken, worin es ihm in seiner Musik ging: (...)"Man darf nicht vergessen, dass die Melodie eigentlich der Gedanke, der Umfang in sowohl Form als Materie eines Werkes ist. Die Harmonie ist Erleuchtung, die Belichtung eines Gegenstandes, sein Widerschein. Beim Komponieren halten sich beteiligten Parteien nicht an die ‘Schul‘regeln. Die Schule hat ein rein gymnastisches Ziel. Die Komposition dagegen hat ein ästhetisches Ziel, wobei ausschließlich der Geschmack eine Rolle spielt. (...) Seid Künstler, ohne es sein zu wollen. Der reine Gedanke kann ohne Kunst auskommen. Misstraut der Kunst; oft ist sie nicht mehr als Virtuosität."

"Wir haben die Ehre, Ihnen unter der Leitung der Herren Erik Satie und Darius Milhaud und dem Dirigenten Herrn Delgrange, während der Pause zum ersten Mal "musique d’ameublement" zu präsentieren. Wir bitten Sie inständig, überhaupt nicht hinzuhören und so zu tun, als ob die Musik nicht bestünde. Diese Musik versteht sich genau so wie ein Stück Ihrer Umwelt, wie zum Beispiel ein persönliches Gespräch, ein Bild oder ein Stuhl, auf dem Sie, wenn Sie wollen Platz nehmen können. (...)"

So der Einladungstext zu einer Ausstellung in der Galérie Barbazanges am 8. März 1920. Hiermit präsentierte Satie eine seiner neuesten Ideen über Musik. Er hatte die Vision, dass ein Bedürfnis bestünde an Musik. die Teil der Umgebungsgeräusche wäre.

"Ich stelle mir vor, dass diese Musik sehr melodiös sein muss; sie würde das Geklirr von Messern und Gabeln in einem Restau­rant dämpfen, ohne selbst zu dominieren, ohne sich aufzudringen. Sie würde peinliche Gesprächspausen füllen, die Gäste vor Plattitüden bewahren. Gleichzeitig würde sie taktlos eindringende Straßengeräusche neutralisieren."

Nach der Meinung des Komponisten könnte diese Art Musik auch in öffentlichen Gebäuden, Banken u. dergl. Anwendung finden. Was Satie hiermit der Weitsicht eines echten Visionärs skizziert, ist aus unserem heutigen Leben kaum noch wegzudenken: Hintergrundmusik - ‘Musak‘.

Obwohl sich Satie alle erdenkliche Mühe gab, seine Musik von diesem Zeitpunkt an in Termen von "musique d‘ameublement" zu erklären - die drei Teile des symphonischen Dramas ‘Socrate‘ waren geeignet für einen Saal, ein Vorportal oder für einen Schrank - setzte er seine Theorie nur ein einziges Mal in die Praxis um: bei seiner Filmmusik zu ‘Entr’acte’ - einem Film von René Clair. Dieser Film diente als Intermezzo in dem sur­realistischen Ballett ‘Relâche‘ (1924), dessen Musik ebenfalls von Satie stammte. Mit dieser Musik mit ihren ständig repetierenden, übergangslos aneinander montierten Phrasen (‘minimal music‘ in ihrer reinsten Form) wollte Satie nichts anderes, als ein akustisches Dekorschaffen, worin der Zuschauer sich ganz und darauf das Geschehen auf der Leinwand konzentrieren konnte. Satie gab nur zehn Abschnitte an, die mit bestimmten Punkten in dem Film übereinkamen. Durch - nicht näher spezifizierte - Wiederholung einiger Motive, konnte die Musik einfach mit den Bildern synchronisiert werden. Virgil Thomson nannte diese revolutionäre Filmpartitur "die beste Filmmusik, die jemals geschrieben wurde". Darius Milhaud bearbeiztete ‘Entr‘acte cinématographique‘ noch im selben Jahr für Klavier vierhändig und veröffentlichte es unter dem Titel ‘Cinéma‘.

In den Jahren 1920 bis 1924 war Satie in kompositorischer Hinsicht nicht sehr aktiv. Er schrieb nicht mehr als zwei Liederzyklen, ‘Quatre Petites Mélodies‘ und ‘Ludions‘. Er hatte zwar viele Pläne; jedoch kam keiner wirklich zur Ausführung. So wollte Satie nach ‘Parade‘ eine Oper mit dem Titel ‘Paul et Virginie‘ schreiben, nach einem Libretto von Jean Cocteau und Raymond Radiguet. Alles, was in Saties Nachlass hierüber zu finden war, sind zwei Prosafragmente.

In dieser Periode setzte sich Satie einerseits mit dem sich gerade entwickelnden Surrealismus und dem Dadaismus auseinander, und anderseits mit der kommenden Generation junger Komponisten. Er unterstützte zum Beispiel die ‘Groupe Les Six’, brach im Jahre 1924 mit diesen und stürzte sich auf eine neue Gruppe junger Komponisten, die später unter dem Namen ‘école d‘Arcueil‘ einige Bekanntheit erlangte. Von dieser illustren Gesellschaft ist es nur Henry Sauguet gelungen, nicht in dem Strom der Vergessenheit u ertrinken.

Im Sommer des Jahres 1924 wurde Saties außergewöhnliche Phantasie plötzlich wiederangeregt. Graf Etienne de Beaumont inszenierte im Théâtre de Ia Cigale am Montmartre eine Reihe neuer Theater­produktionen mit dem Titel ‘Soirées de Paris‘. Eingedenk des publizitär äußerst wirkungsvollen Skandals und des späteren Erfolges von ‘Parade‘, beauftragte de Beaumont das Trio Satie, Picasso und Massine mit einem neuen Stück. Das Resultat dieser Zusammenarbeit war das Ballett ‘Mercure‘, ein Ballett ohne Drehbuch, ein rein dekoratives Spektakel, ‘Poses plastiques’ (Lebende Bilder) wie der Untertitel lautet.

Der Stoff für das Ballett stammt aus der griechischen Antike, die Handlung ist hier jedoch entmythologisiert und modernisiert, indem sie Jahrmarktsfiguren und Jahrmarktsmusik auf die Bühne bringt. Mit der Musik zu Mercure versuchte Satie nach eigenen Aussagen rein dekorative Musik zu schreiben, die Picassos Dekor in Musik übersetzt. Dabei handelt es sich um dessen kalligraphisch anmutende Figuren, typisch für den Kubismus mit geschwungenen Linien des Künstlers. Auf diese Figuren bezieht sich auch der Untertitel des Balletts, 'Poses Plastiques'. Die Stücke dieses Balletts sind sehr kurz, manchmal nur zwölf Takte lang, gleich Posen, die nur einen Moment lang andauern. Diese neue Art von Ballett ging auf die amerikanische Tänzerin Isodora Duncan zurück, die die Bewegungen antiker Vasenbilder studierte. Diese statisch anmutende Musik aus kleinen Bauelementen und ihre Verschmelzung mit der Alltagsmusik waren ihrer Zeit voraus und konnte erst später von Musikhistorikern verstanden und gewürdigt werden.

Die Premiere fand am 15. Juni 1924 statt und die Geschichte von ‘Parade‘ schien sich zu wiederholen. Die Empörung im Saal war so groß, dass die Vorstellung abgebrochen werden musste. Die Uraufführung des Balletts im Pariser La Cigale war ein Skandal. Eine Gruppe surrealistischer Maler schrie unentwegt: "Es lebe Picasso! Nieder mit Satie!", und verfasste später ein Manifest gegen Satie, dass von Malern wie Max Ernst aber auch von Saties engsten Freunden und Schülern, etwa Francis Poulenc und Georges Auric unter­schrieben wurde. Graf de Beaumont hatte seinen Skandal; es ist heutzutage jedoch kaum noch vorstellbar, wodurch die Em­pörung des Publikums eigentlich ausgelöst worden war. Die gerade im Aufschwung begriffenen Surrealisten störten sich vor allem an Saties ‘altmodischen Circus-­Musiktheaterstil’, wogegen Picasso als Held gefeiert wurde. Es war wahrscheinlich nur ein Skandal um des Skandals Willen; wurde Satie doch kurz nach seinem ‘Mercure‘ von zwei den Surrealisten nahestehenden Künstlern, Francis Picabia, der das Libretto und die Dekors lieferte und 1924 einer der letzten Dadaisten war, und Marcel Duchamp, eingeladen, an dem ‘ballet instantanéiste‘ ‘Relâche‘ mitzuarbeiten.

Satie, der bereits zuvor das dadaistische Manifest "Le Coeur à barbe" unterschrieben hatte, wurde seit der Aufführung von 'Relâche' endgültig zu den Dadaisten gezählt. 'Relâche' teilt mit dieser Kunstrichtung eine Publikumsver­höhnung, die sich im Programmheft des Werkes mani­festiert, wie auch in der Tatsache, dass seine Handlung keinen erkennbaren Sinn aufweist. In Picabias Worten versinnbildlicht das Werk "das Leben ohne morgen, das Leben von heute, Autoscheinwerfer, Perlenketten, die feinen weiblichen Rundungen, Werbung, Musik, Autos, Männer im Abendgewand, Bewegung, Lärm und Spiel. Wie die Unendlichkeit hat 'Relâche' keine Freunde. Um Freunde zu haben, muss man recht krank sein, zu krank, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Sollte Satie 'Relâche' mögen, dann etwa so wie er auch Lammhaxen oder seinen eigenen Regenschirm mag. Das Wort 'Relâche' hat keine Bedeutung, es ist der Blütenstaub unserer Epoche. Ein wenig Staub auf unserer Fingerspitze und schon verschwindet das Bild. Man muss es aus der Entfernung betrachten und darf es nicht berühren." Saties Musik besteht aus zwei Akten mit jeweils elf Nummern und der Musik zu einem Film von René Clair, 'Entr‘acte', der in der Pause gezeigt werden sollte. Sie enthält bekannte Kinder- und Studentenlieder mit anzüglichen Texten sowie einen verzerrten, an Chopin erinnernden Trauermarsch und zeichnet sich durch die mehr oder weniger unlogisch zusammengewürfelten Bausteine verschiedener Länge aus, die unwillkürliche Momente festzuhalten scheinen und für Saties Musik so typisch sind.

‘Relâche‘ sollte Saties letzte Komposition werden. Und auch dieses unbegreifliche dadaistische Werk verursachte bei seiner Premiere am 29. November 1924 einen Skandal, unter anderem verursacht durch René Clairs Film, die eigentümliche Un-Handlung der Tänzer und nicht zuletzt durch Saties Musik. Trotz des unbeschreiblichen Tumults wurde der Vorhang für die üblichen Verbeugungen hochgezogen. In einem 5-PS-Citroen fuhr Satie auf die Bühne, fuhr etwas hin und her und grüßte ironisch das Publikum. Nach der einhelligen Meinung des Heeres der Kritiker hatte Satie hiermit "ohne Mühe die tiefsten Niederungen der Kabarettmusik erreicht".

Satie störte sich jedoch nicht im geringsten an solchen Qualifikationen. Er betrachtete ‘Relâche‘ als eines der wichtigsten Ereig­nisse seines Lebens und als einen Wegweiser für seine Zukunft. Das Schicksal hatte es jedoch anders beschlossen. Satie hatte gerade noch Zeit genug, seine Ballette für das Klavier zu bearbeiten, bevor eine Leberzirrhose, die kurz nach ‘Relâche‘ auftrat, ihn ans Bett fesselte. Die Kondition seines, durch chronische Bronchitis und Trank ausgemergelten Körpers, ließ schnell nach, und am 1. Juli 1925 verstarb Satie im Alter von 59 Jahren im Hôspital St. Joseph.

Die wenigen Freunde, die Satie bis zu sei­nem Lebensende behalten hatte, erbarmten sich seiner bescheidenen Besitztümer und betraten zum ersten Mal Saties Wohnung in Arcueil. Sie umschrieben diese als "Kreu­zung zwischen der Grotte von Aladin und einem Spinngewebe".

In einem auf den Kopf gekehrten Flügel - Saties Ablage - fanden sie die Partitur von ‘Jack in the box’, einer unveröffentlichten Theatermusik aus dem Jahre 1899 und den Ansatz eines ‘Allegros‘ aus dem Jahre 1884. Diese Skizze von nicht mehr als neun Takten endet genau an dem Punkte, wo nach den Normen westeuropäischer Musik neues musikalisches Material zum Einsatz kom­men müsste. Im Nachhinein ist es bezeich­nend, dass Satie nicht nach den allgemein gültigen Regeln weiterzugehen wünschte. Während seines ganzen Lebens suchte er gerade nach neuen Wegen, um seine Kompositionen weiterzuführen. Auf diese Weise schuf er neue Formen, neue Stile und vor allem eine neue Ästhetik mit einer enormen Reichweite. Um mit den Worten des Komponisten und Kritikers Charles Koechlin zu sprechen: "Mit seiner außerordentlichen Weisheit und mittels seiner neuen Entdeckungen, die oberflächlich besehen trivial scheinen, aber bei näherem Hinsehen von einer unendlichen Phantasie, Beobachtungsgabe. Schlauheit und - nicht zuletzt - Musikalität zeugen, hat es Satie verstanden, uns das Groteske vor Augen zu führen, dessen künstlerische Tragweite wir noch immer kaum zu erfassen imstande sind".

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Erik Satie, Signatur

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