Aus einem Friseursalon in Aberdeen,
einem Kaff an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, dringen dumpfe Töne
auf die menschenleere Straße. Vor kaum einer halben Stunde hat Mrs. Novoselic
ihren Laden geschlossen und die Jungs ermahnt nicht wieder so laut zu sein. Einer
von ihnen ist Chris, ihr Sohn. Er ist fast zwei Meter lang und trägt einen
merkwürdig schmalen Bart, der von den Ohrläppchen abwärts unter
dem Kinn entlangläuft. Er hat schon alle Arten von Bärten und Koteletten
getragen, nur einen Schnäuzer würde er sich nie wachsen lassen. Eher
ließe er sich einen Kühlschrank auf den Rücken tätowieren.
Denn Chris Novoselic ist Bassist in einer Rockband. Ein paar Monate hat er als
Fischer in Alaska gearbeitet, bevor er nach Aberdeen zurückkehrte und mit
Kurdt Kobain Nirvana gründete. Das war vor ungefähr drei Jahren. Zu
der Zeit lernten sie auch Dale Crover, den Drummer der Melvins, kennen, die ebenfalls
aus dieser Gegend stammen und geniale 50-Sekunden-Zeitlupen-Metal-Stücke
spielen. Er produziert die erste Nirvana-Single und sitzt auch sonst des öftern
hinterm Schlagzeug, wenn die Band durch Washington tourt. Es vergeht ein Jahr,
bis Nirvana mit Chad Channing einen festen Drummer und mit Jason Everman einen
zweiten Gitarristen finden. Als sie in Mrs. Novoselics Friseursalon neue Stücke
probieren, ist es kaum ein paar Tage her, daß Jack Endino, Hausproduzent
des Sub-Pop-Labels, bei Kurdt anrief, um mitzuteilen, daß er gerne eine
LP mit ihnen aufnehmen würde. "Wir lebten seit einiger Zeit in Seattle",
erzählt Kurdt, "hatten aber weder einen Übungsraum noch genügend
Songs zusammen. Wir fuhren also zu Chris Mutter nach Aberdeen, des ungefähr
hundert Meilen westlich von Seattle liegt, und sie gab uns drei Tage. In dieser
Zeit schrieb ich sieben der elf Songs für 'Bleach'." Pop
Kurdt Kobain ist ein kleiner, blonder Kerl mit dünnen Lippen, und im Gegensatz
zu dem kumpeligen Chris Novoselic, ein launischer Zyniker. Die Fotosession ist
ihm unangenehm, daß er auf einen Barhocker klettern soll, um den Größenunterschitd
zu Chris auszugleichen, fast unerträglich. Er tut es wortlos, doch man sieht,
was er denkt. Als wir später in einer Kneipe in Rotterdam, wo sie am Abend
spielen sollen, zusammensitzen, versucht er, die Klasse von 'Bleech' etwas zu
relativieren. Unkokett und sehr ernsthaft nörgelt er an seiner eigenen Platte
herum, findet sie ein bißchen zu heavy und ein bißchen zu brahra,
um Jack Endino schließlich zu bestätigen, dennoch einen guten Job gemacht
zu haben. Sie seien halt etwas unvorbereitet gewesen. Damit wir uns verstehen:
'Bleach' ist eine saugute LP und Nirvana next year's Mudhoney. Vielleicht
werden sie berühmt wie die Pixies, wer weiß es. Denn Nirvana sind nicht
nur eine weitern gute Ami-Band in der Reihe guter Ami-Bands, die SPEX euch Monat
für Monat unter die Nase reibt, sie sind darüber hinaus eine gute Lieblingsband.
Sie verabreichen dir genau die Dosis an Härte und Gitarrensauerei, die du
ertragen kannst, wenn du kein ausgesprochener Freund von harten x-Core-Bends bist
und als l4jähriger eher Talking Heads als AC/DC oder eher Tuxedomoon als
Cockney Rejects gehört hast. Klar, heute sind wir alle klüger. Aber
zumindest Kurdt Kobain ist genau jener durch College-Radios geprägte, kultivierte
Amerikaner, der das Pendant zu dem New-Wave-Gymnasiasten der frühen 80er
unserer Breiten darstellen könnte. "Eigentlich höre ich lieber
Young Marble Giants als Heavy Metal", sagt er und wird leicht säuerlich,
als ich ihn nach seiner Definition von Grunge frage. "Das ist doch
nichts als ein Etikett, Mann. Das kriegt eben jede Band aus Seattle verpaßt,
die Powerchords, Distortion und einen harten Beat hat. In England nennen sie es
Hardcore..." Sexy Auch bei den Aufnahmen zu 'Bleach' war Dale
Crover im Studio. Der Einfluß der Melvins auf die Bands des Nordwesten ist
nicht hoch genug einzuschätzen und bei Nirvana oft genug zu hören.
'Negative Creep' zum Beispiel, ein Song, von dem Kurdt erzählt, er habe sich
selbst damit charakterisieren wollen, der mit der Schwere eines Amboß auf
den Schädel trifft. Neben Green River und Soundgarden bildeten die Melvins
Mitte der 80er Jahre den Kern der Szene Seattles. Aus Green River und Matt Lukin,
dem Bassisten der Melvins, wurde Mudhoney. Dale Crover trommelte wie gesagt eine
Zeitlang bei Nirvana, während deren Gitarrist Jason Everman vor einem Monet
hei Soundgarden einstieg. Heute sei Sub Pop nur noch eine Szene neben vielen,
sagt Kurdt. Klar, in Seattle leben auch Chemistry Set, Sanctuary und Guns'n'Roses.
Und warum sind Nirvana auf Sub Pop? Man weiß es nicht. Zufall, meint Chad
lakonisch. Man kennt sich Downtown Seattle. SPEX: Und wie ist Jack
Endino? Kurdt: "Er ißt ständig Schokoriegel, Öl-Sardinen
und Kartoffelchips - durcheinander." Der fette, klar-strukturierte Nirvana-Sound,
der weder von störenden Obertönen, noch pussierlicher Distortion durchsetzt
ist, sondern einfach als sinnliches Muskelpaket daherkommt - das ist Trash-Pop,
big sebi sex, you know. Drei (ehedem vier) Jungs aus dem amerikanischen Nordwesten,
die cool genug sind, göttliche Angeber-Riffs zu spielen, und nur, wenn es
thematisch unumgänglich ist, ein bißchen den Sensiblen raushängen
lassen ('About A Girl' eben). Aber - Kurdt Kobain will partout nichts davon wissen,
läßt mich am ausgestreckten Arm verhungern und schwärmt tatsächlich
von den Buzzcocks. "Manchmal denkt ich", grübelt Kurdt mit
aufgestütztem Kinn, "unsere Musik ist vielleicht Dance-Rock oder sowas.
" Als sie dann spät am Abend in diesem viel zu großen Club
in Rotterdam loslegen, Kurdt mit haarverhangenem Gesicht und der sexiesten Stimme,
die ich seit Ewigkeiten gehört habt, einem trockenen Fauchen, das schlicht
aus der Lunge und nirgendwo sonst (Seele etwa) herkommt, nachdem sie mir ein paar
Stunden zuvor alle Illusionen, wir hätten es bei Nirvana mit taffen Beißern
zu tun, geraubt hatten, weiß ich wieder, worum ich sie mehr als alle anderen
Bands zwischen Portland und Tucoma schätze. Sweet, sweet music, wie Honig.
Süß und zäh rutscht das die Kehle runter und wärmt den Magen
(nicht die Seele). Und jetzt, live, auf der Bühne, wird auch deutlicher,
was Nirvana unter Pop verstehen. Nicht nur, daß Chris ein wirklicher Baß-Kasper
ist, auch der maulfaule Chad und Songwriter Kurdt entwickeln echte Entertainer-Qualität.
"Meine Freunde sagen, ich sei zu negetiv", erzählt Kurdt, "doch
im Grunde bin ich nur amüsiert über vieles, das ich lächerlich
finde. Ich habe einen permanenten, schwarzen Humor." Im Kern sind Nirvana-Songs
gutgelaunte Dinger. Auch wenn sie wie ein fetter Prahlhans die Faust ballen. Sweet
Seattle Sex. Ich liebe es. Chris: "Unsere Songs klingen tief und
schwer, weil wir sie so spielen. Außerdem hängt es allein schon mit
der Instrumentierung zusammen. Mit Akustikgitarre und Orgel klängen sie sicherlich
leichter, es wären aber dennoch die gleichen Songs. Wir sind eine Songwriter-Band
mit einem eher traditionellen Verständnis von Popsong." Kurdt:
"Wir wollen Platten machen, denen du zuhörst, nicht nur Platten,
zu denen du abrockst. Also keine Platte, wo man die Nadel überall absetzen
kann, und es wird immer ein harter, schneller Rock'n'Roll-Sound sein."
SPEX: Glaubst du, daß 'Bleach' diese Vielseitigkeit hatte? Kurdt:
"Auf ihre eigene Art schon." Auf ihre eigene Art sind Chad, Chris
und Kurdt liebenswerte Jungs, denen man ruhig seine minderjährige Tochter
anvertrauen kann. Schließlich wohnen sie nicht von ungefähr 4710 University
Way. Und vielleicht bringen Chad, Chris und Kurdt Mrs. Novoselic eine Kuckucksuhr
aus Europa mit, wenn sie sie mal wieder zuhause in ihrem Friseursalon in Aberdeen,
das hundert Meilen westlich von Seattle an der Pazifikküste liegt, besuchen.
"Man kann dort wunderschön spazierengehen", versichert Chris. Quelle:
SPEX Dezember 1989 |