NICO

Selten eine Künstlerin in der Popmusik so unübersehbare Spuren hinterlassen wie Nico und ist doch dabei fast unsichtbar geblieben. Ob Dark Wave oder Gothic, Gruft- und Pop-Acts wie Bauhaus oder Siouxsie & the Banshees, sie alle blühen seit den späten 70ern / frühen 80ern auf dem von Nico beackerten Terrain. Von den Fans vergöttert ist Nico konsequent ihren Weg gegangen - und dies nicht nur in musikalischer Hinsicht. Anstatt die Erwartungen des Musikgeschäftes oder ihrer Lebenspartner zu erfüllen, zog sie sich lieber in die - oft drogenumwölbte - innere Emigration zurück. Ihrer Musik haftet deshalb die Aura des Authentischen an: Unter den dicken Schichten ihrer zumeist von deprimierend düsterer Mystik geprägten Lieder, blickt man in die Abgründe eines wahrhaftig ernsten Menschens.

Nico, geboren am 16. Oktober 1938 in Köln als Christa Päffgen, wuchs mit Mutter und Großeltern in Lübbenau im Spreewald nahe Berlin auf. Sie ist ein eher ernstes und ruhiges kleines Mädchen, das sich gerne von den anderen absondert. Der Friedhof von Lübbenau wird zu ihrem liebsten Spielplatz. Ihr Vater, nach ihrer Geburt zur Wehrmacht eingezogen, kehrt, obwohl er den Krieg überlegt hat, nie zur Familie zurück. Ihre Mutter spricht oft von Selbstmord. Nach dem Krieg zieht Margarete Päffgen mit ihrer Tochter nach Berlin, wo sie als Schneiderin arbeitet.

Christa entwickelt sich zu einer anmutigen jungen Dame und wird mit sechzehn für die Modewelt entdeckt. Der Fotograf Herbert Tobias macht erste Aufnahmen von ihr; der Modeschöpfer Heinz Oestergaard engagiert sie als Mannequin. In dem Fellini-Film "La Dolce Vita" spielt das junge Mädchen mit den damals hellblond gefärbten Haaren seine erste kleine Rolle. Für Modeaufnahmen pendelt sie zwischen Berlin, Paris, London und Rom. Christa Päffgen ist im Jetset angekommen.

1959 zieht sie nach Paris und lernt den zwanzig Jahre älteren Filmemacher Nico Papatakis kennen. Sie verliebt sich in ihn und nennt sich fortan wie er - Nico. Nach zwei Jahren gesteht Nico ihrem Lebensgefährten, daß sie schwanger ist - "vom schönsten Mann der Welt" Alain Delon. 1962 kommt Christian Aaron Päffgen, genannt Ari, zur Welt, doch Alain Delon, noch mit Romy Schneider liiert, bestreitet die Vaterschaft - im Gegensatz zu seiner Mutter Edith Boulogne, die Ari zusammen mit Nico großzieht.

Lange hält es Nico in Paris nicht aus. In London trifft sie auf Brian Jones und nimmt für das Label des Rolling-Stones-Managers Andrew Loog Oldham ihre erste Single "The Last Mile/I'm Not Sayin'" auf. Bob Dylan kennen schenkt ihr ein Lied "I'll Keep lt With Mine". Die Männer lieben die schöne Deutsche. Nico bringt Ari bei ihrer Mutter auf Ibiza unter und geht nach New York. Sie schluckt Speed und Valium, die üblichen Mittelchen in der Modeszene. Doch Nico will mehr. Sie nimmt Schauspielunterricht an der Strasberg-Schule, besucht die Partys der In Crowd. Bob Dylan stellt sie in der Factory Andy Warhol vor, der ihr eine Rolle in seinem Film "Chelsea Girls" gibt und sie mit der Band bekannt macht, die er managen will: The Velvet Underground. Paul Morrissey: "Die Velvets brauchten ein Element von Schönheit im Kontrast zu dieser schrillen Häßlichkeit, die sie transportierten. Ein wahrhaft schönes Mädchen inmitten ihrer ganzen Dekadenz war haargenau das Richtige. Und das war Nico."

Nico fängt eine Affäre mit Lou Reed an, den sie unbeschreiblich sexy findet. Er komponiert Songs für sie: "Femme Fatale", "All Tomorrow's Parties" und "I'll Be Your Mirror". Doch Nico ist Andy Warhols perfekter Star. Wie er redet sie wenig, beobachtet und läßt sich bestaunen. In ihren eleganten, meist weißen Hosen mit ihrem kräftigen Körperbau und dieser unendlich tiefen Stimme hat sie trotz eindeutiger Weiblichkeit auch eine männliche Ausstrahlung. Sie hat Affären mit all den Männern, die Warhol begehrt. Er sieht in ihr das zweigeschlechtliche Wesen, das er selbst nicht sein kann - ein Alter Ego für seine ungelebten homosexuellen Wünsche. Zwischen Lou Reed und Nico gibt es ständig Streit.

Nico beginnt in der Kellerbar "Stanley's" unter dem "Dome" mit Soloauftritten, die Gitarrenbegleitung kommt Band vom Band, bis der achtzehnjähriger Jackson Browne auf sie trifft. Mit lebt sie eine Weile zusammen. Leonard Cohen kommt jeden Abend ins "Stanley's" und betet sie an. Später widmet er ihr das Liebeslied "Take This Longing". Währenddessen bekommt ihre Mutter einen Verfolgungswahn. Sie schließt Ari in ein Zimmer ein und wirft den Schlüssel weg. In einer Kölner Klinik diagnostizieren Ärzte schwere Paranoia und die Parkinsonsche Krankheit.

Nico nimmt Ari zu sich nach New Yorkund schleppt den Kleinen überall mit hin. Ari wird das Maskottchen in der Factory und ist nächtelang mit seiner Mutter unterwegs. Er wird unglücklich und bekommt immer heftigere Tobsuchtsanfälle, bis Nico Delons Mutter bittet: "Bitte hole Ari, er ist sehr krank." Edith Boulogne nimmt Ari mit nach Bourg-la-Reine in der Nähe von Paris. Nicos Leben verläuft immer unregelmäßiger. Nach dem Bruch mit Velvet Underground erscheint 1968 Nicos erstes Soloalbum, "Chelsea Girl". Nicos sakral anmutende Interpretation der Lieder wurzelt in der europäischen Tradition - sie ist eine Chanteuse, keine Rocksängerin. Ihre Stimme klingt dunkel und durchdringend, leise und verzweifelt.

In Kalifornien trifft sie Jim Morrison und Nico färbt ihre Haare aus Liebe zu ihm rot. Morrison bestärkt Nico darin, eigene Songs aufzunehmen, fordert sie auf, ihre Träume zu notieren und dann zu vertonen. "The Marble Index", ihre nächste Platte, ist ein unbarmherziges, erschreckendes Werk. John Cale, der sich ebenfalls mit Lou Reed zerstritten hat, produziert und arrangiert das Album. Nicos desillusionierende Texte handeln von der Unmöglichkeit zu lieben, denn die Liebe zwischen zwei Menschen führt zur Vernichtung. Jeder Kontakt zu menschlicher Gesellschaft ist abgebrochen. Es bleiben arktische Kälte und Finsternis, und im Tod liegt Erlösung. Auf andere wirkt Nico jetzt distanziert und beziehungslos. Freunde, Jahre und Orte haben keine Bedeutung mehr. Sie scheint seltsam entrückt und unbesitzbar. "Manchmal, wenn man mit ihr redete, starrte sie in die Luft. Sie antwortete nicht, war geistesabwesend. Aber Stunden oder gar Tage später kam sie auf das Thema zurück, als sei nur eine Minute vergangen", erzählt John Cale. "Ich fand das toll. Sie war wie ein Alien - nicht von dieser Welt. Verloren." 1970 stirbt ihre Mutter an einer doppelseitigen Lungenentzündung.

Nico verläßt New York und geht wieder nach Paris, wo sie sich in den französischen Filmemacher Philippe Garrel verliebt. Der Grübler und Existentialist beeindruckt sie durch seine Intelligenz. Er wird der wichtigste Mann in ihrem Leben, sie wird seine lebenslange Leidenschaft. Von dem Moment ihrer Begegnung an dreht er nur noch Filme über sie und seine Beziehung zu ihr. Ari kommt auf ein katholisches Internat und pendelt zwischen Boheme und Bourgeoisie, bis seine kleinbürgerliche Großmutter Nico den Kontakt mit Ari verbietet. Die jammert zwar, unternimmt aber nichts, auch als Boulognes 1978 Ari adoptiert. Nico gibt Solokonzerte mit ihrem Harmonium, während Garrel LSD-Trips wirft. Nico findet dagegen Gefallen an Heroin. Die beiden können sich selbst und einander nicht mehr aushalten.

Bei einem Gastspiel lernt Nico den Berliner Musiker Lutz Ulbrich kennen. Der 14 Jahre jüngere Mann verliebt sich in sie und begleitet sie zu Konzerten. In London tritt Nico 1974 mit Brian Eno und John Cale auf und nimmt später mit ihnen "The End" auf. Das Doors-Stück klingt bei Nico noch unheilvoller als bei Jim Morrison. Sie singt auch erstmals das Deutschlandlied mit der verbotenen Strophe, das sie später auf Konzerten Andreas Baader widmet. Aus Deutschland hagelt es Unverständnis und herbe Kritik. Es kränkt Nico, daß sie in Deutschland so wenig anerkannt wird. Sie liebt die deutsche Sprache, betont immer, eine Deutsche zu sein, und leidet gleichzeitig unter der historischen Schuld. Sie bringt Ulbrichs dazu, auch Drogen zu nehmen. Sie geht zu Konzerten nach New York, wohnt im Chelsea Hotel, nimmt Methadon und trinkt Alkohol, wird aggressiv und jähzornig. Nachts irrt sie auf der Suche nach Stoff verzweifelt durch New York. Sie betrinkt sich in Clubs und erzählt Wildfremden ihre Lebensgeschichte. Wie sie ohne Vater aufgewachsen ist und trotzdem alles nach oben ging. Wie begehrt sie war, wie schön. Und wie sie jetzt aussieht. Sie wird traurig und weint. Darüber, daß sie ihren Sohn verloren hat. Darüber, daß sie nie einen Mann gefunden hat, mit dem sie ihre Geschichte verarbeiten konnte.

Dann wieder tingelt sie mit ihren alten Stücken durch Europa. In England trifft sie den 27jährigen Konzertveranstalter Alan Wise. Er wird ihr Manager und überredet sie, nach Manchester zu ziehen, stellt ihr Begleitmusiker zur Seite, organisiert Konzerte und Tourneen - und unterstützt sie bei der Beschaffung von Heroin. Es stört sie nicht, süchtig und dauernd bedröhnt zu sein. Im Gegenteil - das Heroin gibt ihr ein Zuhause. Sie kann sich in der Vergangenheit einrichten und die Gegenwart aussperren. Die Droge vernichtet all ihre sexuellen Bedürfnisse. Und Nico ist froh darüber, endlich ihre Ruhe zu haben. Wochenlang läuft sie in denselben Klamotten herum, schminkt sich nicht, wäscht sich kaum, hat fettige Haare und raucht Kette. Sie ist Ende vierzig, und Freunde erkennen sie kaum noch. Dunkelgraue Ringe unter den Augen, aufgeplatzte Äderchen unter der Haut, rissige Lippen, kaputte Zähne, strähnige Haare. Manchmal verläßt sie ihr Zimmer tagelang nicht, dämmert im Drogenrausch vor sich hin, schaut sich alte Schwarzweißfilme im Fernsehen an und spielt auf ihrem Harmonium. Sie braucht drei Schuß Heroin am Tag, und die kosten hundert Pfund, dreihundert Mark.

Ari, mittlerweile volljährig, zieht auch nach Manchester. Er weiß nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll, und fängt an, Heroin zu spritzen. Es heißt, seine Mutter habe ihn angefixt, weil sie ihn liebe und seine Gesellschaft haben wolle. Mutter und Sohn leben zusammen wie ein Paar. Sie streiten heftig, teilen sich ihre Spritzen und schlafen in einem Bett. Wenn Ari Freundinnen mitbringt, wird Nico böse und behandelt die Mädchen schlecht. Sie kommen nie wieder.

1985 geht Nico mit John Cale ins Studio und nimmt "Camera Obscura" auf. Die LP bekommt freundliche Kritiken, und Nico gibt danach bessere Vorstellungen als lange Zeit davor. Sie wird wieder selbstsicherer auf der Bühne. Nach fünfzehn Jahren Heroin schraubt sie endlich ihre Dosis runter und steigt auf Methadon um. Sie arbeitet an einer neuen Platte und gibt Konzerte in Ost- und Westeuropa. Nebenbei schreibt sie an ihrer Autobiografie, die eine Mischung aus Tatsachen und Fiktion werden soll. 1986 folgt eine Tournee durch Australien sowie ein passables Live-Doppelalbum ("Behind the Iron Curtain"). Sie wird strenge Vegetarierin.

Im Sommer 1988 veranstaltet der ehemalige Liebhaber Lutz Ulbrich ein Festival im Berliner Planetarium. Er lädt Nico ein, die am 4. Juni 1988 mit ihrer Band the Faction in Berlin eintrifft. Das Konzert - die Musik wird mit optischen Effekten untermalt - wird ein gewaltiger Erfolg, das Publikum will eine Zugabe. Nico singt "You Forget to Answer". Es ist der letzte Song, den sie je auf einer Bühne singen wird. Nico mietet für sich und ihren Sohn ein Haus auf Ibiza. Seit dem Konzert in Berlin leidet sie unter Kopfschmerzen. Am Mittag des 18. Juli 1988 zeigt das Thermometer über 40 Grad. Nico trägt eine schwarze Lederhose, ein schwarzes Sweatshirt. Ari zum weiteren Hergang. In der Mittagshitze macht sie sich mit dem Fahrrad nach der 10 lm entfernten Ibiza-Stadt auf, um etwas Haschisch zu kaufen. Unterwegs auf dem Marktplatz versagen plötzlich ihre Kräfte. Sie kann nicht mehr sprechen und ist halbseitig gelähmt. Ein junges Paar lädt sie ins Auto und fährt die Krankenhäuser der Insel ab. Im ersten sind keine Ärzte da, im zweiten auch nicht. In der größten Klinik der Insel wird sie endlich operiert. Sie stirbt an den Folgen eines Blutgerinnsels im Gehirn. Am 16. August 1988 wird ihre Asche in Berlin-Grunewald neben dem Grab ihrer Mutter beigesetzt.

Nico Biografie | Veröffentlichungen 1965/80 | 1980/85 | 1986/2003
Quellen: "Nico Web Site 1998" (nicht mehr erreichbar) und Nico Web Site 2000 von Serge Mironneau, "Nico" von Albrecht Heeffer und Nico alias Christa Päffgen von Heiko Buhr, sowie "Here Come The Girls" und "Nico - Ice Goddess Of The Velvet Underground" (alle nicht mehr erreichbar) von Fans, die ihren Namen nicht verraten wollen.
Mehr Gedanken über Nico: Nico: Lost in the Land - Part I: Solitary Dream | Nico: Lost in the Land - Part II: Derelict Emotions
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