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Noam Chomsky
"War Against People. Menschenrechte und Schurkenstaaten" (Europa Verlag 2001)

Wer immer ein Unbehagen bezüglich der politischen und wirtschaftlichen Macht der Vereinigten Staaten von Amerika in seiner Bauchgegend gespürt haben sollte, nach diesem Buch dürfte es ihm zu Kopf gestiegen sein. Chomsky fügt aus einem Puzzle von Tatsachen ein vernichtendes Bild amerikanischer Außen- und Wirtschaftpolitik zusammen, dass einfach zu real ist, um als Verschwörungstheorie abgetan zu werden. Doch lasst uns ein paar Schritte zurückgehen: Wie nähert mensch sich einem solchen politischen Buch? Entweder allein über den Inhalt oder über den Autor. Die erste Methode ist eigentlich veraltet, weil sie ja eine inhaltliche Auseinandersetzung verlangen würde - und das ist einfach zu schwierig heute, wo Journalismus und Politik praktisch Synonyme für Dummheit oder zumindest (gesundes oder gefährliches) Halbwissen sind (Haben diese Menschen eigentlich bei so viel Schützenfesten, Grundsteinlegungen und Pressekonferenzen noch Zeit sich fortzubilden indem sie politische Bücher lesen?). Also, wie können wir dem Autor ans Zeug flicken, um das Buch in den Mülleimer der Geschichte zu befördern? Chomsky ist Amerikaner, Professor gar am MIT, mit wissenschaftlichen Ehren überschüttet, also menschlich und von seiner Herkunft nicht angreifbar. Schon mal schlecht. Chomsky steht aber politisch links und war schon Kritiker des Vietnamkriegs. Super, der Mann ist also Kommunist, also ist alles was er schreibt ideologisch verbohrt und daher irrelevant. Und so lügen wir uns weiter unsere Weltsicht zusammen, indem wir nur die Fakten wahrnehmen, die uns in den Kram passen, anstatt anhand aller erreichbaren Fakten zu überprüfen, ob unser Weltbild noch mit der Realität übereinstimmt. Und so wird dieses Buch leider nur von politischen Wirrköpfen gelesen, die das eh alles schon vorher gewusst haben. Was schade ist, denn eigentlich wissen wir ja um all diese Fakten wie die Kuba-Blockade-Politik, die Überstützung von südamerikanischen Todesschwadronen, die Beteiligung des CIA am Putsch in Chile, die Agent Orange-Flächenbombardements in Vietnam, die Propagandalügen, um den Angriff auf den Irak zu rechtfertigen, wir wissen, dass täglich Kinder im Irak sterben wegen der anglo-amerikanischen Blockadepolitik im UN-Sicherheitsrat, die Kündigung internationaler Umweltschutzabkommen durch George W. Bush, die geheimen amerikanischen Biowaffenlabors, aus denen das Anthrax in den Terrorbriefen im September 2001 kam, deren Urheber interessanterweise immer noch nicht ermittelt ist, "Kein Blut für Öl", das amerikanische Schweigen zu den Giftgasmorden durch Saddam Hussein an den irakischen Kurden (als dieser noch "befreundeter Schweinehund" und Kämpfer gegen den bösen Iran war), die Invasion auf Grenada, die Unterstützung der Taliban, solange es gegen die Russen ging, die Verwicklungen des CIA in den internationalen Drogenhandel, und so weiter. Es ist alles bekannt, es ist sogar wiederholtes Motiv vom Hollywood-Produktionen, wie z.B. in "Rambo", es gibt Dutzende Filme über illegale Machenschaften amerikanischer Geheimdienste und Regierungsstellen (doch am Ende siegt immer der einsame Einzelkämpfer und rettet die Ehre und das Ansehen des USA) - und doch weigern sich die meisten Menschen, die Zusammenhänge zu erkennen und Schlüsse daraus zu ziehen (und schauen sich weiter Hollywood-Filme an und finden sie spannend, obwohl eigentlich klar ist, dass in 99% der Filme der Held siegt - aber andererseits sind wir ja auch geil auf Formel Eins-Autorennen, obwohl wir wissen, dass die Fahrer die Crashs eigentlich überleben müssten, aber auf das eine Mal, wo sie Pech haben, da warten wir drauf). Denn sie würden richtig erschrecken: die USA nicht als Weltpolizist, sondern als Weltterrorist, die andere Staaten nötigen und wenn nötig mit blutiger Gewalt ihren Willen aufzwingen. Wer in seiner Jugend mal was von Winnetou gehört hat (als Deutscher darf mensch natürlich nicht sagen, dass die native americans (politisch korrekt für Indianer) eigentlich Opfer eines Holocausts durch die weißhäutigen Invasoren waren, weil das ja die Einzigartigkeit des Holocausts an den jüdischen Menschen in Europa und Russland zwischen 1933 und 1945 in Frage stellen würde, aber die geschichtlichen Tatsachen und die Menschenverluste legen Analogien nahe) kennt den Satz: "Bleichgesicht sprechen mit gespaltener Zunge" und das tun die Repräsentanten der USA noch heute, sprechen von Menschenrechten und treten sie gleichzeitig mit Füßen, wenn es ihnen Vorteile bringt. Letztes konkretes Beispiel: in den USA ist gerade ein Gesetz verabschiedet worden, dass es der amerikanischen Regierung gestattet, auch militärische Mittel zu greifen, um vor dem internationalen Strafgerichtshof angeklagte Amerikaner zu befreien. Dies ist der Kern der heutigen Politikverdrossenheit, dass Politiker anderen Menschen Regeln aufzwingen, an die sie sich nicht selbst zu halten bereit sind. Dass Politiker A sagen und B meinen. Dass sie sich als Herrenmenschen verstehen, die das Volk beherrschen dürfen ohne sich für irgendwas zu rechtfertigen. Und genauso ist das Verhältnis der USA gegenüber dem Rest der Welt. Wer dieses Buch liest kann nicht mehr so weiterleben wie bisher.
PS: Konkret erzählt Chomsky davon, wie die US-amerikanische Politik statt für Demokratie zu kämpfen Diktatoren wie Trujillo, Mobutu, Marcos, Duvalier, Noriega und Hussein unterstützte, solange diese die amerikanischen Interessen unterstützten und erst gegen sie vorging, als diese aus ihrer ihnen zugedachten Rolle fielen; von dem militärischen Kampf gegen die katholische Befreiungstheologie in Mittel- und Südamerika; darüber wie die USA eigentlich gegen jeden amerikanischen Staat vorgingen, in dem das Volk seine eigenes Leben bestimmen wollte, wie Nicaragua, Chile, Guatemala, Kolumbien und ganz brutal mit seiner Blockadepolitik seit 40 Jahren gegen Kuba; wie Nicaragua 1986 vor dem Weltgerichtshof ein Urteil gegen die USA wegen ungesetzlicher Anwendung von Gewalt (die sogenannte "humanitäre" Hilfe für die Contras - erinnert sich noch jemand an Oliver North?!) auf Zahlung von Reparationen erstritt, doch durch wirtschaftliche und politische Erpressung auf den Anspruch verzichten musste.
Auf einer zweiten Ebene erzählt Chomsky von der globalen Ausbeutung, der Zerstörung des Wohlstandes des Völker unter dem Banner der Globalisierung; wie der wachsende Wohlstand auf der Erde nach dem 2. Weltkrieg 3 Grundlagen hatte, nämlich der Erklärung der Menschenrechte (die die USA gerne mit Füßen traten, wenn sie ihren Interessen im Wege waren und auch gegenüber der eigenen Bevölkerung nicht einhielten), der UN-Charta über das gedeihliche Zusammenleben des Staaten und Völker (die die USA auch gerne mal ignorierten), sowie der Regulierung der Finanzmärkte, ein Kernpunkt der sogenannten Wirtschaftsordnung von Bretton Woods; dass diese Wirtschaftsordnung beginnend mit Nixon von der US-amerikanischen Regierung mit Unterstützung von Wirtschafts- und Finanzverbänden bekämpft wurde; dass ein zentraler Punkt dieses Kampfes die Behauptung war, dass Kapitalgesellschaften eigene Persönlichkeitsrechte haben, die durch internationale Abkommen inzwischen mehr Schutz als die Rechte der einzelnen Menschen genießen; dass seit der Deregulierung der Finanzmärkte nicht nur der Wohlstand in der dritten Welt drastisch gesunken, sondern auch das Wirtschaftswachstum in den Industrienationen gesunken und z.B. auch das Einkommen der arbeitenden Bevölkerung in den USA selbst rückläufig ist; wie Kredite an Entwicklungsländer bei den Eliten versickern und dann die Bevölkerung ausgepresst wird, um die Schulden abzuzahlen; und wie das Ganze von den amerikanischen Massenmedien bejubelt und die düsteren Tatsachen verschwiegen wird.
Fast möchte man sagen, dass dieses Buch ein schwarzes Loch ist, der jeden Glauben an eine gerechte Welt in sich selbst zusammenstürzen lässt.
(2002-06-25)

Traudl Junge, unter Mitarbeit von Melissa Müller
"Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben" (Claassen, 2002)

Natürlich ist die Vermarktung von diesem Buch perfekt organisiert und übertreibt seine historische Bedeutung. Traudl Junge war eine von Hitlers Sekretärinnen, allerdings auch diejenige, der er sein politisches Testament diktierte, indem er das deutsche Volk als zu schwach beschimpft, ihm in seinem Kampf gegen den Rest der Welt zu unterstützen (Es wird mir ewig ein Rätsel sein, wie ein(e) halbwegs intelligente(r) Deutsche(r) nach diesem Testament Hitler ernsthaft noch als Idol bezeichnen kann, aber die Dummheit der Menschen ist offenbar grenzenlos - oder die Neo-Nazis sind selbst Volksverräter?!). Junges Text entstand 1947 und erzählt das relative banale Alltagsleben des Führers im Krieg, dass kaum Rückschlüsse auf seine tatsächliche Gedankenwelt ermöglicht. Daher fallen einige interessante Stellen um so deutlicher auf, wie zum Beispiel der Ausschluss von Henriette von Schirach (Ehefrau des Reichsjugendführers und Tochter von Hitlers Leibfotografen) aus dem inner circle, nachdem sie bei einer Teerunde Hitler fragte: "Mein Führer, ich habe kürzlich in Amsterdam einen Zug deportierter Juden gesehen. Es ist entsetzlich, wie diese armen Menschen aussehen, sie werden sicher sehr schlecht behandelt. Wissen Sie das, und erlauben Sie das?" (Seite 101). 40 Seiten davor beschreibt Junge ihr Unbehagen während der Fahrt im Führerzug: "Ich musste daran denken, wie die anderen Züge aussahen, die vielleicht zur gleichen Zeit durch die deutsche Landschaft fuhren, kalt und unbeleuchtet, mit Menschen, die weder genug zu essen hatten noch überhaupt einen bequemen Platz fanden - und ich hatte auf einmal ein unbehagliches Gefühl." 1947, als Junge dies schrieb, dachte sie immer noch an die deutschen Personenzüge im Krieg und nicht die Deportationszüge nach Auschwitz. 1944 fällt ihr Mann in der Normandie. Hans Junge war einer der Diener Hitlers, erkannte jedoch, dass er seiner Umgebung und damit seinem Einfluss entkommen musste, um sich ein eigenes Bild der Situation machen zu können (Seite 110). Nach der Heirat mit Traudl lies er sich an die Front abkommandieren. Völlig verändert kam er zurück mit dem Gefühl, dass Hitler "die wahre Situation nicht mehr überblickte" (Seite 131). Hitler selbst mied nach Beginn des Kriegs den Kontakt mit der Bevölkerung und reiste nachts. "Niemals hat Hitler gesehen, wie der Krieg in der Heimat aussah, wie groß die Zerstörungen und Verwüstungen waren" (Seite 140). Noch einige andere Stellen fallen auf, insbesondere das Diktat von Hitlers politischen Testament, doch es bleibt unklar inwieweit die geschilderten Gefühle Junges die damaligen oder die aus der Distanz von 1947 sind.
Müller kommentiert behutsam Junges Erinnerungen und erzählt ihren Lebensweg nach 1945, wie sie in die westdeutsche Gesellschaft ohne großes Nachfragen integriert wird. Die Standartentschuldigung "Du warst doch noch so jung" kommt ihr jedoch in den 60er Jahren abhanden, als sie sich vor einer Gedenktafel des Schicksals von Sophie Scholl bewusst wird, die 1943 wegen Verteilens von Flugblättern gegen Hitler hingerichtet wurde. Traudl Junge war 22 Jahre alt, als sie Hitlers Sekretärin wurde, Sophie Scholl 1 Jahr jünger und hatte erkannt, dass sie unter einem Verbrecherregime lebte. "Mit einem Mal kam mir die Entschuldigung abhanden" (Seite 261). Dies ist der interessante Aspekt an Traudl Junges Geschichte, wie sie selbst ohne direkten Anstoß von außen ein kritisches Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte entwickelt. Man möchte es die eigentliche menschliche Größe nennen, die Läuterung, dass was Richter und Gesellschaft von verurteilten Tätern verlangen, aber die deutsche Gesellschaft nach 1945 nicht schaffte, weil sie sich selbst gegenseitig entschuldigte, und die alliierten Ankläger selbst untereinander zerstritten waren und jeder sein eigenes Süppchen kochte. Niemand hat Junge angeklagt und doch hat sie sich selbst geläutert.
(2002-06-25)

Noam Chomsky
"The Attack. Hintergründe und Folgen" (Europa Verlag, 2002)

Dieses Buch ist keine authentische Übersetzung der amerikanischen Originalveröffentlichung "9-11", die als Interviewband erschien. Denn die Interviews wurde für die deutsche Ausgabe zu Essays umgeschrieben. Ob dabei die inhaltliche Aussage erhalten geblieben ist weiß ich nicht. Der Effekt ist jedenfalls, dass das Buch nach mehr erscheint als das Original vorgibt. Eine Sammlung von Interviews ist im Prinzip nur ein Remix und Edit der bisherigen Veröffentlichungen von Chomsky, bekannte Thesen und Theorien angewandt auf eine neue Situation. Das ganze in Essays umzuschreiben bedeutet, dem Inhalt eine größere Legitimation zuzuschreiben (weil in Essays ja mehr Arbeit reingesteckt wird als in Interviews, auch wenn das keine qualitativen Unterschiede zur Folge haben muss) als tatsächlich vorhanden ist. Egal, auch wenn dieses Buch wie ein Schnellschuss wirkt (trotz der Umschreibung der Interviews in Essays), so ist es doch eine gute Einführung in Chomskys Denken und vertieft Aspekte, die bei der Diskussion über die Folgen des 11. September 2001 oft übersehen werden. Zum Beispiel dass auch die USA selbst als (christlich-) fundamentalistischer Staat angesehen werden können (ganz aktuell der Aufruhr über das Urteil eines Bundesgerichts in Kalifornien, dass der Schuleid "one nation under God" verfassungswidrig sein soll, weil er die Trennung von Staat und Religion missachte - erinnert sich noch jemand an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Kruzifixen in bayrischen Klassennzimmern?), der kein Problem mit islamischen Fundamentalismus hat, wenn er in befreundeten Staaten wie Saudi-Arabien blüht, oder hilft gegen die Russen zu kämpfen (Afghanistan), andererseits sehr wohl Probleme mit dem Christentum hat, wenn dieses z.B. in Form der Befreiungstheologie der katholischen Kirche in Amerikas Hinterhof (Mittel- und Südamerika) die Menschen zu einem selbstbestimmten Leben anleitet. Die beliebte Theorie vom Kampf der Kulturen erweist sich somit als blühender Blödsinn. Interessant ist auch der Hinweis auf die Informationsfreiheit (mehr dazu im Chomskys Buch "War against people"), die gerne als Druckmittel gegen andere Staaten benutzt wird, aber dann endet, wenn sie tatsächlich ausgeübt wird. Der Emir von Qatar hat öffentlich erklärt, die amerikanische Regierung habe von ihm verlangt, Druck auf den Fernsehsender Al-Dschasira auszuüben, damit Osama bin Laden dort kein Forum mehr bekomme (das erinnert mich daran, dass mal ein ehemaliges RAF-Mitglied im Fernsehen erzählt hat, dass das BKA damals die Videos von der Schleyer-Entführung manipuliert habe, um die Professionalität der RAF zu vertuschen). Interessant sind auch die Hinweise auf eine 1985 von Reagan in Auftrag gegebene Autobombe, die in Beirut 80 Menschen tötete, um einen islamischen Geistlichen zu liquidieren (er entkam), die Bombardierung der pharmazeutischen Fabrik Al-Shifa im Sudan unter falschen Behauptungen und deren verheerenden Folgen für die Gesundheit der Menschen in der Region. Andererseits weigern sich die USA bis heute, Warren Andersen an Indien auszuliefern, den Mann, der bei Union Carbide für das Giftgasunglück in Bhopal und 16.000 Tote verantwortlich ist. Er wird auch nicht in den USA angeklagt. Überhaupt kommt Chomsky immer wieder auf den Begriff "Terrorismus" zurück und zeigt, wie beliebig dieser Begriff verwendet wird und insbesondere, was nicht darunter fällt, nämlich alle Handlungen der USA und ihrer Verbündeten. Es liegt nahe, die Ursachen des Widerstandes gegen die USA und des 11. Septembers eher in der Arroganz und Selbstgerechtigkeit der USA, ihren Lügen und politischen Erpressungen gegenüber dem Rest der Welt zu sehen als in irgendeinem religiösen Wahnsinn. Denn Religion ist doch meistens nur vorgeschobenes Deckmäntelchen für ganz andere Interessen.
(2002-06-28)

Pierre Bourdieu
Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion (UVK Universitätsverlag Konstanz, 1998)

Das Interessante an den französischen Intellektuellen im Gegensatz zu den deutschen ist, dass sie gesellschaftlich Stellung beziehen. Pierre Bourdieu war einer von diesen politischen Intellektuellen und Gegenfeuer ist eine Sammlung von 17 Essays, Reden und Interviews zu verschiedenen Aspekten des Neoliberalismus. Was dem Buch notwendigerweise fehlt ist ein Überbau, ein Gesamtkonzept gegen den Neoliberalismus. Da ein solches Konzept aber in seiner beängstigenden Einfachheit für viele Leute wohl in die Nähe von Verschwörungstheorien geraten würde, würde es kaum Anklang finden (Es sei denn man kommt selbst darauf - und selbst dann würde man nicht wagen, es wirklich zu glauben.). Viel interessanter ist es daher, Menschen anhand von Einzelaspekten zu politischem Bewusstsein zu (ähem) erziehen und sie danach an die umfassende Theorie heranzuführen. Unter diesem Aspekt finden sich viele schöne Stellen im Buch, auf denen sich aufbauen ließe:

  1. "Das, was als Krise der Politik, als Antiparlamentarismus bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit ein Verzweifeln am Staat als Verantwortlichem für das öffentliche Interesse" (Seite 13). Wobei natürlich offen bleibt, was denn das "öffentliche Interesse" eigentlich ist (Man kennt das ja aus dem Ausländerrecht, die berühmt-berüchtigten "Belange der Bundesrepublik Deutschland", eine leere rhetorische Seifenblase.), aber wenn wir mal grob davon ausgehen, dass das "öffentliche Interesse" auch alle die Interessen von Bevölkerungsgruppen umfasst, die zu groß oder schwach sind, um sich noch in Interessenverbänden organisieren zu können (wie ADAC, Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Kirchen etc.), dann dürfte klar sein, dass die Formel "blüht die Wirtschaft geht, dann geht es auch dem Staat gut" neoliberaler Schwachsinn ist.
  2. "Die terroristische Gewalt wurzelt fast immer im Irrationalismus der Verzweiflung, doch gerade dadurch verweist sie auf die eherne Gewalt derjenigen Mächte, die sich auf die Vernunft berufen. Die Ausübung ökonomischen Zwangs kommt häufig unter dem Deckmantel juristischer Vernunft daher, und auch der Imperialismus versteckt sich hinter der Legitimität internationaler Instanzen. Durch die Verlogenheit der Rationalisierungen zur Maskierung seiner double standards erzeugt und rechtfertigt er bei den arabischen, südamerikanischen und afrikanischen Völkern ein grundsätzliches Aufbegehren gegen die Vernunft als solche, welche man nicht losgelöst von den unter Berufung auf die (ökonomische, wissenschaftliche usw.) Vernunft stattfindenden Machtmissbräuche sehen kann" (Seite 29f.). Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dass Noam Chomskys Buch "War Against People" die Beweise dafür liefert.
  3. "Es ist unendlich viel einfacher, für oder gegen eine Idee, einen Wert, eine Person, Institution oder Situation Stellung zu beziehen, als das zu analysieren, was sich in Wahrheit in seiner ganzen Komplexität dahinter verbirgt" (Seite 32f.). Genau, Politikern sollte unter Strafe verboten sein, sich innerhalb von 24 Stunden zu irgendeinem Ereignis zu äußern, damit sie Zeit zum Nachdenken haben, bevor sie den Mund aufmachen. Und auch das Privatfernsehen ist nur ein Trick, den Leute die Zeit zum selbständigen Denken zu klauen.
  4. "Die Konstruktion eines (...) Gegensatzes zwischen der weitsichtigen Perspektive einer aufgeklärten "Elite" und den kurzsichtigen Beweggründen des Volkes oder seiner Repräsentanten war schon immer und überall typisch für das reaktionäre Denken, aber in Gestalt eines Staatsadels kleidet es sich heute in eine neue Form, die ihre Überzeugungen von der eigenen Legitimität aus Bildungstiteln und der Autorität der Wissenschaft - insbesondere der Wirtschaftswissenschaft - schöpft. Für diese neuen Herrscher von Gottes Gnaden sind nicht nur Vernunft und Modernität, sondern auch Wandel und Veränderung der Seite der Herrschenden, der Minister, der Arbeitgeber oder der "Experten" zuzurechnen, Unvernunft und Rückständigkeit, Unbeweglichkeit und Konservatismus hingegen der des Volkes, der Gewerkschaften und der kritischen Intellektuellen" (Seite 34f.). "Bei den Bemühungen um die Neuordnung des öffentlichen Dienstes haben Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler usw. eine entscheidende Rolle zu spielen. (...) Ihre Aufgabe ist es, stichhaltige Analysen und innovative Vorschläge hinsichtlich der wichtigen Fragen zu erarbeiten, die die politisch-mediale Orthodoxie zu stellen verbietet. (...) Man kann autoritärem Technokratismus eine Absage erteilen, ohne in einen Populismus abzurutschen, dem die sozialen Bewegungen der Vergangenheit nur all zu oft gehuldigt haben und der einmal mehr den Technokraten in die Hände spielen würde" (Seite 37).
  5. "Wie der Marxismus früher, mit dem sie in dieser Hinsicht vieles gemein hat, stiftet diese Utopie (gemeint ist der Neoliberalismus) einen ungeheuren Glauben, den free trade faith" (Seite 115). Und gegen religiösen Wahnsinn ist schlecht zu argumentieren, nicht mal Fakten wie das Platzen der E-Business-Seifenblase können den religiös Verblendeten überzeugen.

Weitere Themen des Buches sind die Manipulationen der Massenmedien, Fremdenfeindlichkeit, Intellektuelle als Handlanger der Globalisierung, der systematische Abbau sozialer Rechte, wunderbar zugespitzt in der Wortschöpfung "Flexploitation" und die Notwendigkeit ländergrenzenübergreifender gesellschaftlicher Bewegungen. Hervorzuheben ist insbesondere auch das Essay "Der Mythos "Globalisierung" und der europäische Sozialstaat", in dem die gravierenden gesellschaftlichen Unterschiede zwischen USA und Europa herausgearbeitet werden, weshalb der Neoliberalismus eigentlich als Frontalangriff auf die gewachsenen sozialen Strukturen in Europa angesehen werden muss und nicht als angebliche Optimierung. Gegenfeuer ist ein Buch, dass ungeheuer viel Gedankenfutter bietet, ohne predigen zu wollen.
(5-7-2002)

Jürgen Teipel
"Verschwende Deine Jugend" (suhrkamp taschenbuch, 2001)

Dieses Buch ist großartig, aber wer dem Untertitel "Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave" vertraut, oder den Zitaten auf der Rückseite, könnte möglicherweise schwer enttäuscht werden. "Atemberaubend spannend"? Höchstens wie ein Hollywood-Film, an dessen Ende immer das Gute siegt. "Eine oral history der Jahre 1976 bis 1983"? Dazu ist der Inhalt viel zu selektiv. Und "die Memoiren des Pop"? Bleib mir weg mit diesen hohlen Sprüchen. Dieses Buch ist keine Geschichte des deutschen Punk und von Neuer Deutscher Welle, denn zu Wort kommt nur die erste Generation, die Rebellen, über die Mitläufer und Nachzügler hinwegtrampelten und deren Namen heute zumeist vergessen sind. Nein, dieses Buch erzählt nur die Lebensgeschichte einiger Menschen an einem im Nachhinein historischen Punkt der deutschen Kulturentwicklung. Es erzählt von Dissidenten, Menschen, die sich in dem Angebot an Jugendkultur in West-Deutschland 1977 nicht wiederfanden (erinnert sich noch jemand an das deutsche Rock-Label damals, Brain?), kreativen Geistern, die den Impuls aus London (und New York) benutzten, die versteinerten Regeln ihrer Umwelt über den Haufen zu werfen. Männer und Frauen, die die Sex Pistols richtig verstanden: nicht "no future", sondern "no future for you", die die Parole "alles ist möglich" ernst nahmen. Jürgen Teipel erzählt mit einer geschickten Montage von O-Tönen, mit welcher Geschwindigkeit sich Menschen damals verändert haben, aufgestiegen und wieder abgestürzt sind und dabei unwissentlich Geschichte geschrieben haben. Denn dass mensch Geschichte schreibt, dass merkt mensch erst hinterher. Circa 20 Jahre später. Da sieht mensch erst, was hängen geblieben ist, auch wenn es sich kurz danach wie eine Niederlage anfühlte. Die Geschichte, die dieses Buches erzählt, ist sowohl einmalig als auch typisch. Das besondere der damaligen Situation war, dass hier eine Generation in den Startlöchern stand, die einerseits auf den Erfahrungen und Fehlern der älteren Brüdern und Schwestern aufbauen konnte (und durch ein Bildungssystem gegangen war, dass zu kritischer Reflektion und bewusstem Handeln anregte, auch wenn die Lehrer nicht erwartet hatten, dass sich diese Fähigkeiten gegen sie und ihre Generation richten würden; es ist im übrigen bezeichnend, dass Erinnerungen mit solcher Selbstreflektion von älteren Musikergenerationen selten sind), aber andererseits noch nicht von einer Konsum- und Jugendindustrie vereinnahmte war wie dies heute der Fall ist (Allerdings könnte mensch auch fragen, ob Punk nicht erheblich zum Entstehen dieser geistzersetzenden kapitalistischen Jugend-Ausbeutungsmaschinerie beigetragen hat?). Das typische dagegen sind die Lebensläufe dieser Innovatoren in Relation zu der mit geschaffenen Bewegung, wie ihre Ideen vulgarisiert und in konsumierbarere Bahnen gelenkt werden (und die Werbesprüche für dieses Buch sind ein Teil dieses Problems), die es auch simpel gestrickteren Gemütern ermöglicht, an dem Image teilzuhaben. Dieser Untergang der ersten Generation lässt sich zweifellos für jede Jugendbewegung davor und danach beschreiben und ich sage schon jetzt voraus, dass entsprechende Bücher über Techno und deutschen HipHop demnächst auch in den Regalen stehen werden. Dieses Buch ist keine Geschichte über den deutschen Punk und New Wave, es ist die Geschichte einer Jugend in Deutschland. Und das ist viel besser.
(2002-04-12)


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