Die neuen Rockstars machen Musik zum Mitgrölen, sehen aus wie Bürgers Alptraum und nennen sich selber Mistkerle. Die jüngste Welle der Popmusik ist der Urschrei einer Generation ohne Zukunft. Sie hat in England begonnen und will jetzt auch Deutschland erobern
Foto: Alex Levac / Camera Press

PUNK-ROCK

Der eine nennt sich "Schleimige Kröte", der andere "Räudige Ratte". Zurechtgemacht sind sie, als verdienten sie sich ihren Lebensunterhalt als Alptraum in den dunklen Ecken einer Geisterbahn. Sie spielen, derzeit noch eher für Almosen statt Gagen, in schäbigen Pubs im Norden Londons, in Manchester und Liverpool. Ihre Bands heißen "Stinkiges Spielzeug", "Die Würger", "Die Verdammten", und als Plattenproduzent ist eine Firma namens "Leiche" tätig. Das ist Punk-Rock.
Der Punk-Rock beutelt England, macht inzwischen aber auch schon in New York und Chicago, in Tokio, Paris und Stockholm meistens mit empörten Schlagzeilen von sich reden. Denn die Punks, zu deutsch: "Mistkerle", tischen einen schrillen, musikalisch einfallslosen Rock auf zu aggressiven Texten in kernigem Proleten-Slang. Nummern, die sich zum entfesselten Mitgrölen eignen und auch schon mal zum Gläser-Schmeißen.
Als kürzlich die Gruppe "Sex Pistols" in London mit dem Plakat "Wir können jetzt schon drei Akkorde" für ihre neue Single warb, da war das keineswegs nur ironisch gemeint. Wer dreimal eine Gitarre angefaßt hat, gilt als reif zum Auftreten.
Punk-Rock, so haben's ratlose Musikkritiker formuliert, ist "schlecht, aber neu". Und der gewollt abstoßende Urschrei einer Generation ohne Zukunft: Folgerichtig wird Punk von Londoner Unterschicht-Kindern dargeboten, die als halbe Analphabeten von den Schulen abgehen und merken, daß sie im Land der Eton-Elite und der Rolls-Royces einerseits und der 1,6 Millionen Arbeitslosen andererseits kaum eine Chance haben.
Die Punk-Rocker und ihre Fans kamen zunächst aus den trostlosen Mietskasernen der trostlosen Vororte. Sie sind viel zu jung, um noch eine Erinnerung an das "Swinging London" der 60er Jahre zu haben: Ihre Hymne heißt "London brennt vor Langeweile" (Ein Titel der Band "Clash").
Mit ihrem Blick für Realitäten lassen sich die Punks auch schon längst nicht mehr anmachen von den etablierten Superstars wie etwa Rod Stewart oder Mick Jagger, die auf der Bühne scheinbar Putz gegen das satte Bürgertum machen - um sich anschließend in ihren Luxuslimousinen in ihre Luxushotels und Luxusvillen chauffieren zu lassen. Die neuen Punk-Rock-Idole dagegen sind zum Greifen nahe: zum Beispiel, wenn sie mit vielen ihrer Anhänger beim Arbeitsamt um "Stütze" anstehen.
Punk-Rock hat eine Botschaft zu bieten - etwa nach dem Motto: Wenn du weder schön noch reich bist, weder begabt noch aus feiner Familie, dann scheiß auf den Fließband-Job und stilisiere deine Vulgarität zum Kunstmittel. Punk-Rock macht keine Illusionen, verkauft keine Ideale und entwickelt schon gar keinen Drang zum Höheren.

Die Sänger nennen sich "Schleimige Kröte" oder "Räudige Ratte". Die Sands heißen "Würger" oder "Stinkiges Spielzeug" oder "Sex Pistols". Die Fans dieser neuen primitiven Rockmusik lieben nur das Kaputte. Werbung der Gruppe "The Damned" für ihre Punk-Platte: "Wir können schon drei Akkorde"
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"Mensch, du kannst doch nicht von Liebe faseln, wenn du Musik machst für Leute, die ‚Stütze' kriegen!" sagt Johnny Rotten von den "Sex Pistols", der erfolgreichsten britischen Punk-Band. Den überregionalen Erfolg erwarb sich diese Gruppe hauptsächlich durch Fluchen und Majestätsbeleidigung. Letztere kreideten loyale Untertanen Ihrer britischen Majestät den "Sex Pistols" an, weil die ausgerechnet im 25. Jahr der Regentschaft von Queen Elizabeth so bitterböse Nummern wie "Gott schütze die Königin - sie ist kein menschliches Wesen" und "Anarchy in the UK" ("Anarchie im Vereinigten Königreich") vortrugen. Acht und Bann von seiten des Establishments führten freilich dazu, daß die "Sex Pistols" Schlagzeilen machten und ihre Platten, die im Rundfunk nicht gespielt werden durften, in Auflagen zwischen 100000 und 200000 Stück verkauften - stärkere Umsätze, als sie die Beatles in ihrer Frühzeit erzielten.
Ein derartiger Erfolg wäre dem Punk-Rock sicher nicht beschieden gewesen, wäre er nur musikalisch als "New Wave", als neue Welle, hervorgetreten. Noch spektakulärer womöglich als der ungehobelte Gesang aber ist der Punk-Look. Eine Mode. die sich mit sicherem Instinkt aus allen Tabu-Kisten der Gesellschaft bedient: Zum zerfetzten T-Shirt mit dem Bildnis eines Massenmörders werden Hakenkreuze auf der Brust und Sicherheitsnadeln in Ohren und Nasen getragen. Schwarze Plastik-Müllbeutel geben, mit Ketten von der Klo-Spülung gegürtet, einen scharfen Mini über nuttigen Netzstrümpfen und Stiletto-Schuhen ab.

Punk ist nicht nur Musik, sondern auch Mode: Ketten durchs Ohr, im Mund und um den Hals; Haare kurzgeschoren, weiß, lila oder orange gefärbt. "Punk will den Skandal, und seine Mode ist so radikal, damit kein Erwachsener sie nachmachen wird", sagt David Vanium von der Londoner Gruppe "The Damned"
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Aus der Sado-Maso-Abteilung der Sex-Shops kommen so pikante Zutaten wie stachelbesetzte Hundehalsbänder, hautenge schwarze Gummihosen, Vinyl-Corsagen und Handschellen. Aus der häuslichen Mottenkiste stammen Vaters endlich abgelegte dünne Schlipse, die zu einem baumelnden Henkersknoten auf der nackten. tätowierten, Zigaretten-versengten Brust geschlungen werden. Sehr aktuell dazu die spitzigen Spinatstecher. mit denen man zuletzt in den fünfziger Jahren gut beschuht war, und "Dumpies": Beinkleider mit Direktverbindung zwischen Hosentaschen und Hosenschlitz.
Punk-Sein oder Nicht-Sein entscheidet sich aber letztlich am Kopfputz: Kurzgeschoren muß das Haar sein, waschmittelweiß, lila oder orange gefärbt und am besten alles zusammen. Diese für Mädchen wie Knaben obligatorische Meckifrisur erhält den letzten Schliff, wenn man die Haarschneidemaschine mal kurz Amok laufen läßt, so daß die Kopfhaut als rosa Zickzack durchschimmert. Weniger Engagierte begnügen sich damit, die bunten Borsten zu fettigen Stacheln auf zuzwirbeln.
Punk will Skandal. versteht sich als "white riot", als weißer Aufstand, wie ein erfolgreicher Titel lautet. Angesprochen auf die musikalische Dürftigkeit der meisten Punk-Rock-Titel entgegnete Johnny Rotten einem Journalisten: "Was heißt Musik? Chaos wollen wir machen!" Und Mick Jones, Lead-Gitarrist der Band "Clash", findet die gelegentlichen Prügeleien unter seinen Fans ganz in Ordnung: "Die meisten Kids haben einen Mordsspaß dabei; für die war's kein dufter Abend, wenn sie nicht via Krankenhaus nach Hause gehen!"
Zum Image des Punk gehört außerdem, daß man armer Leute Kind ist. Großartig, wenn man wie Dave Vanium, Sänger der "Damned", nachweisen kann, daß man zuletzt als Totengräber gearbeitet hat. Peinlich dagegen, wenn's einem geht wie Joe Strummer von "Clash". Ein Reporter fand heraus, daß der Parade-Prolet zuvor eine Privatschule besucht hatte.
Als Punk weist man in Interviews gern darauf hin, daß man ausschließlich die "Sun" liest, das linksgerichtete britische Massenblatt. Es macht sich auch gut, wenn man seinen Lebenslauf mit einer Episode als Hausbesetzer schmücken kann. Proletarische Abstammung und Lebensgewohnheiten sind des Punks Statussymbole. Die Sprache des Punk, sowohl in den Songs wie auch in den neuen "fanzines" (Abkürzung für Fan-Magazin), ist stolz auf ihren beschränkten Wortschatz, liebt Schimpfwörter und verabscheut Fremdwörter. Das ist geradezu revolutionär in einem Land, in dem sich die breite Masse jahrhundertelang meist

Punk-Rock-Fans in ihrer Hochburg "Roxy", einer Kellerspelunke nahe den alten Markthallen von London. Sie tanzen im Netzhemd über der schwarzen Unterwäsche und mit strammen Strapsen. Selbst vor der Nazi-Uniform des Grauens schrecken die Punk-Fans nicht zurück
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vergebens um jenes arrogante Uni-Englisch bemühte, wie es die Abgänger der Nobel-Hochschulen Oxford und Cambridge pflegen.
Punk-Magazine wie "Sniffin'Glue" (zu deutsch: "Leimschnüffeln" - der Rauschgift-Ersatz der Armen) schreiben ganz einfach so, wie man spricht: bloß nicht intellektuell. Die "fanzines" werden zusammengepappt wie Erpresserbriefe mit ausgeschnittenen Großbuchstaben, ergänzt mit Filzschreiber und lausigen Fotos und dann auf billigsten Maschinen hektographiert. Inzwischen gilt es auch in Schickeria-Kreisen als mächtig "in", die ordinären Käseblättchen zu lesen.
Diese Entwicklung, das wissen die Punks selbst, ist die größte Gefahr, die dem Punk droht - sie bedeutet Kommerzialisierung. Was als ureigener Stil für Halbwüchsige aus der Unterschicht gemeint war, wird von den Trend-settern begierig als neuer Gag aufgegriffen. Punk findet längst mehr Beifall bei gelangweilten Sprößlingen der Middle-class als bei den Londoner Rockern.
Der Applaus von der falschen Seite war eine beinahe zwangsläufige Entwicklung: Im Punk steckt, außer der Aggressivität, auch viel Einfallsreichtum. Wer einem Punk in voller Montur begegnet, steht einem phantasie-vollen Modemacher gegenüber. In der eleganten Zeitschrift "Harper's" kommentierte ein Mitglied der oberen Zehntausend kürzlich die unleugbare Kreativität mit einem Anflug von Neid: "Der Punk-Look stiehlt dem Glanz des Reichseins glatt die Schau!"

Auf der Bühne bieten Punk-Rocker von der Schlägerei bis zur Maske vorm Mikrofon alles, was nach Krawall aussieht. Was häßlich ist, kommt an: kahle Stellen, oft verziert, auf dem kurzgeschorenen Kopf und ein fettes Make-up. Punk-Rock ist die totale Absage an alles, was dem verhaßten Bürgertum gefällt
Foto: Alex Levac / Camera Press (2), Robert Ellis, Christa Peters

In der Tat: Witz haben die Jungens, und er ist originell wie ihre aufsehenerregende Mode vom Müll, die dem Besitzer des "Roxy", eines schäbigen Kellerschuppens im Sanierungsgebiet von London bei den alten Markthallen von Covent Garden teuer zu stehen kam. In dieser Punk-Hochburg mußte nämlich Nacht für Nacht die Kette an der Wasserspülung auf der Damentoilette erneuert werden, weil die Mädchen sie für Halsketten demontierten.
Es konnte nicht ausbleiben, daß die seit den sechziger Jahren recht ideenlosen Londoner Modemacher sich schamlos auf die unverbrauchten Punk-Ideen stürzten. Goldene Rasierklingen zum Umhängen und brillantbesetzte Sicherheitsnadeln hat mittlerweile jeder fortschrittliche Juwelier im Schaufenster.
Längst gibt es auch eine Punk-Couture. In "World's End", der nach einem Pub so genannten Gegend am Ende der King's Road, macht zum Beispiel der Laden "Seditionaries" Punk-Furore. Besitzer dieser Boutique mit Namen "Die Aufständischen" ist Malcolm McLaren, der Manager der "Sex Pistols". Das Schaufenster ist mit weißer Farbe gegen bürgerliche Neugier zugestrichen; was den Kunden im Inneren erwartet, verrät ein kleines Messingschild mit der Gravur "Kleider für Helden". Die Heldenkleider entpuppen sich beim Nähertreten als "Sklavenuniform". Der Renner der Saison ist der schwarze Bondage-Suit, der Hörigkeitsanzug, mit Fesseln um Arme und Hosenbeine. Selbstbewußt daran ist nur der Preis: umgerechnet 600 Mark.
Ein paar Schritte weiter hat sich soeben ein richtiger Punk-Supermarkt entwickelt mit vielen Ständen für so einschlägiges Zubehör wie Nylonhosen mit Tigermuster, kleinen Silberdolchen, die man durchs Ohrläppchen stecken kann, mit Schuhen vom Typ "brothel-creeper" - Bordellschleicher. Es gibt die modische Punk-Hose mit dem Straps zwischen den Hosenbeinen, damit der Träger in Schaftstiefeln keine zu großen Schritte machen kann; es gibt reichlich schwarzes Leder und Gummi, Netzstrümpfe und Eisenketten, knallbunte Haarfärbemittel und Postillen aus dem Punkunderground.

Paula Almquist

(Quelle: Stern 43/1977)


Fresse / Information Overload