PUNK - Kultur aus den Slums: brutal und häßlich

Punk-Fans in London: "Wenn es der älteren Generation Angst macht - phantastisch!"

Punk: Nadel im Ohr, Klinge am Hals

Häßlich geschminkte Jugendliche tragen in Müll-Klamotten, mit Nazi-lnsignien und Hundeketten Protest gegen Arbeitslosigkeit und Langeweile in der Industriegesellschaft zur Schau. Ihr primitiver "Punk-Rock" wird von Plattenfirmen erfolgreich vermarktet. Jet-Setter von New York bis München empfinden die Lumpen-Mode als letzten Schick. Doch echte Punker sehen den Rummel schon kritisch: "Da läuft irgendwas schief."

Der Lärm aus den Marshall- und Hiwatt-Verstärkertürmen ist so groß, daß das Trommelfell nur noch ein undifferenziertes Pauken registriert. Die Wörter "Gib mir Tod, ich will nicht leben, also gib mir Tod", die ein pickliger Teenager namens Johnny Blood, Sänger der Band "Dead Dogs", hektisch ins Mikrophon heult, sind kaum zu verstehen.
Von den Neonröhren, Metallrohren und Eisenträgern an der Decke des überfüllten, mit etwa 200 Quadratmetern viel zu kleinen Kellers tropft Kondenswasser auf die schwitzende, dampfende, auf und ab hüpfende Menge: Pogo-Tanz im Londoner "Roxy" am Covent Garden.
Die Tanzenden tragen zerfetzte T-Shirts; ihr Zottelhaar ist grün, rosa oder violett gefärbt und mit einer Pomade aus Vaseline und Talkumpuder aufgetrimmt. Manche haben sich Sicherheitsnadeln durch Wangen, Lippen, Nase oder Ohrläppchen gesteckt. Irgendwann schleudert der Sänger eine leere Bierbüchse unter die Tänzer, die ihre Arme wie Windmühlenflügel schwingen, um in der Underground-Meute einen winzigen Platz zu behaupten.
Einige, zumeist Jungen zwischen 15 und 20, halten sich am Hals umfaßt, als würden sie sich würgen. Schlägen und Tritten der Nachbarn ist dennoch kaum auszuweichen. Manche Nase blutet, aber allen scheint das zu gefallen.
Plötzlich zerschmettert ein Halbstarker eine Bierflasche an der Bühne, droht mit dem Scherbenhals um sich und schlägt einen gekonnten Magenhaken. Der Getroffene reißt dem Schläger, der gleich darauf zu Boden geht, mit der Sicherheitsnadel vom Ohr das halbe Ohrläppchen ab. Blut strömt, aber die Pogo-Ekstase geht weiter, niemand kümmert sich darum.
Die Szene ist heute schon Literatur - oder was man dafür halten mag. Der 16jährige Gideon Sams, ausgeflippter Sohn eines Londoner Nahrungsmittel-Großhändlers, vermittelt sie in seinem Kurzroman "The Punk"*, der vom Regisseur Michael Same ("Myra Breckinridge") für eine Million Dollar verfilmt werden soll.
Denn einmalig ist dieses gewalttätige Vergnügen keineswegs: So geht das jede Nacht, nicht nur im "Roxy". Auch im Londoner "Vortex", das knapp 500 zu menschlichen Horrorfiguren gestylten Jugendlichen (zu wenig) Platz bietet, im "Marquee"-Club und in zahllosen ähnlichen Pinten bis hinauf nach Manchester und Liverpool bringt derzeit aggressiver Primitiv-Rock aufgestaute Ängste und Ärger eines halbwüchsigen Lumpenproletariats und frustrierter Bürgerkinder zur Entladung.
Noch mag es in ähnlichen Teenager-Treffs außerhalb Großbritanniens wie dem "C.B.G.B's" an New Yorks Bowery, dem Club "The Rat" in Boston, dem "Masque" nahe dem kalifornischen Hollywood Boulevard, dem Pariser Vorstadt-Keller "La Main Bleue" oder dem "Punkhouse" am West-Berliner Kudamm halbwegs gesitteter zugehen. Aber soviel ist sicher: Punk, die durch kaum mehr als drei harte Rock-Akkorde angeheizte neue Jugendbewegung, breitet sich in westlichen Großstädten aus.
Noch mag die Geschäftsführerin des Berliner "Punkhouse" in ihrem mit Wellblech dekorierten Etablissement mühsam Ruhe und Ordnung aufrechterhalten, indem sie Rausschmeißer beschäftigt und einem Freak mit dem Phantasienamen Johnny Eldorado, der sich mit Leukoplast beklebt, Plakate abreißt und Musiker ableckt, Hausverbot erteilt.
Wo aber Bands wie die Londoner "Vibrators" die Gäste mit Bier bespucken, wo die "Würger" (The Stranglers), die "Verdammten" (The Damned), die "Zertrümmerer" (The Clash) zur Destruktion alles Hergebrachten aufrufen, da wächst auch die Zahl böser Buben mit der Nadel im Ohr und der Rasierklinge am Hals.
Sogar hartgesottene Alt-Rocker gehen den gefährlich aussehenden Punks aus dem Weg und halten in Kneipen und Konzertsälen, wie jüngst in München, respektvollen Abstand. "Man muß aussehen", sagt Johnny Zeek von der amerikanischen Punk-Band "Shirts", "als ob man jederzeit zu einem Kampf bereit sei und immer ein aufgeklapptes Messer oder eine Rasierklinge in der Tasche trüge."
Punks in London (o.), Punk-Veranstaltung im Londoner "Marquee" (u.): "Anstößig, obszön und ekelhaft"
Doch die zur Schau gestellte Gefährlichkeit der meisten Punks ist bloße Attitüde, verständlich am ehesten als Reflex eines tiefverwurzelten Unwertgefühls angesichts einer Gesellschaft, die dem jungen Mann aus der Unterschicht keine Aufmerksamkeit zu schenken scheint - es sei denn, er schockt.
Was ist Punk, woher der Name? Im Oxford Dictionary ist der Begriff schon für das 16. Jahrhundert belegt: als Substantiv für Hure, als Adjektiv für verdorben, wertlos, ohne irgendwelche Qualitäten. Nach dem Etymologen Eric Partridge soll Punk ursprünglich als eine Slangbezeichnung für schimmeliges, altbackenes Brot verwendet worden sein, möglicherweise abgeleitet vom französischen "pain".
In seinem Buch "Hard Travellin'" bezeichnet der Schriftsteller Kenneth Allsop die jungen Begleiter homosexueller Tramps als Punks. Und ganz ähnlich wird Punk im US-Gefängnisjargon verwendet: für Jungen, die ihr Gesäß an alte Knastbrüder verkaufen.
Der in London lebende deutsche Funk-Feuilletonist Karl-Heinz Wocker will "in gängigen Wörterbüchern" herausgefunden haben, Punk bedeute "das Letzte vom Letzten" - für ihn ein "Versuch, allem die Krone aufzusetzen, ein Eklektizismus der zahlreichen Exhibitionismen der letzten Jahrzehnte". Wenn daran irgend etwas stimmen sollte, dann allenfalls soviel, daß Punk in der öffentlichen Demonstration des Abseitigen und Häßlichen bisherige Außenseiter-Moden übertrifft.
James Deans kalkulierte Coolness im Film "... denn sie wissen nicht, was sie tun", Marion Brandos Leder-Dress im "Wilden", Elvis Presleys erotischer Hüftschwung in "Rhythmus hinter Gittern" mögen reichlich Teenager zum Ausbruch aus überkommenen Konventionen motiviert haben.
Die von Andy Warhol protegierte Rock-Band "Velvet Underground" ließ zu ihren Sado-Maso-Gesängen "Venus In Furs" oder "Femrne Fatale" 1967 auf der Bühne die Bullenpeitsche knallen. Die vom linksextremen Drogen-Propagandisten und Stadtguerilla-Theoretiker John Sinclair angeleitete Musik-Gang "MC Five" in Detroit forderte ihre Fans 1969 auf: "Kick out the jams, motherfuckers!" (Schmeißt alle Hemmungen weg, ihr Arschlöcher!)
Iggy Pop, bürgerlich: James Osterberg, der von den Punk-Kindern heute als Ahnherr gefeiert wird, zerfetzte sich um 1970 in Detroit auf der Bühne mittels einer Glasscherbe die nackte Brust, ließ seine Band "Stooges" in Naziuniformen auftreten und lieferte zu Sprüchen wie "Ich bin der letzte Dreck" oder "Ihr kotzt mich an" die "perfekte Hintergrund-Musik für eine Auspeitsch-Party" ("Los Angeles Free Press").
Keiner dieser Punk-Vorläufer jedoch erreichte auch nur annähernd die Massenwirkung, die letzthin besonders von den britischen "Sex Pistols" ausging. Das gesellschaftliche Klima ist offenbar so beschaffen, daß es einen gewalttätigen Gossen- und Mülleimer-Kult begünstigt. Und wieder einmal, wie seinerzeit die Beatles den durch starke Geburtsjahrgänge und starke Kaufkraft bestimmten Jugend-Markt aufschlossen, war es eine Popgruppe, die den Tendenzwandel zur neuen Häßlichkeit signalisierte.
Noch bevor die Sex Pistols eine einzige Langspielplatte veröffentlicht hatten, waren sie die meistdiskutierte Band im Musikgeschäft. Während des ganzen Jahres 1977 berichteten die großen englischen Pop-Blätter in beinahe jeder Ausgabe über die Schocks und Skandale des Quartetts. Den bislang letzten lieferte es vergangene Woche: Nach einem Konzert in San Francisco - und wenige Tage vor dem geplanten Deutschland-Debüt in Berlin - verkrachte sich die Radautruppe und lief erst einmal auseinander.
Ihr Entree in die Schlagzeilen hatten sich die Sex Pistols vor einem Jahr durch Flüche und Schmähreden in einer Live-Sendung der Londoner Kommerzstation Thames Television verschafft. Pistols-Sänger Johnny Rotten (bürgerlich: John Lydon), 20, hatte den Interviewer einen "dreckigen Bastard", einen "elenden Ficker", einen "beschissenen Schweinehund" genannt.
Protestanrufe blockierten daraufhin die Leitungen der Station. Boulevard-Zeitungen ereiferten sich auf den Frontseiten. Eine geplante Tournee der Sex Pistols mußte abgesagt werden, weil Konzertveranstalter den Rowdys kurzfristig Auftrittsverbote erteilten. Monatelang konnte die Gruppe nur auf einer "Guerilla-Tour" durch die Provinz die Bühnen von Punk-Kaschemmen besteigen, indem sie Eigentümer oder Behörden durch Pseudonyme täuschte. Bevorzugter Titel: "Spots", Abkürzung für "Sex Pistols on Tour Secretly" (Sex Pistols geheim auf Tournee).
Punk in New York Heimfahrt mit der Ambulanz Punk in New York Blutbad mit Dolchen
"Ich werde alles tun", erklärte Bernard Brooke-Partridge, Kultur-Obmann in der Londoner Stadtverwaltung, "um weitere Pistols-Auftritte in dieser Stadt zu verhindern. Sie sind anstößig, obszön und ekelhaft."
Hatte sich ein Vorstandsmitglied des konservativen Musikkonzerns EMI, der die Band gegen 40 000 Pfund Vorauskasse unter Vertrag genommen hatte, nach dem Fernseh-Eklat noch öffentlich entschuldigt ("Was ist denn heute schon unanständig oder obszön, gemessen an den Standards, die noch vor zehn Jahren galten?"), so entließ die Firma das zu heiße Ensemble im Januar letzten Jahres eilends wieder aus dem Kontrakt.
Teils lag das daran, daß sich EMI-Lagerpersonal weigerte, die erste Pistols-Single "Anarchy In The U. K." auszuliefern, teils an einer neuerlichen Band-Flegelei. Vor der Abreise zu einem Konzert in Amsterdam, so wurde kolportiert, hätten die Musiker auf dem Londoner Heathrow-Flughafen alte Damen angespuckt.
Im März verpflichtete die Plattenfirma A & M Rottens Rotte für 50 000 Pfund und warf ihr eine Woche später weitere 25 000 Pfund hinterher, um sie wieder loszuwerden. In der Zwischenzeit hatten die Punker nämlich nicht nur das Londoner Firmenbüro demoliert, sondern sich auch in einem Pub mit dem Programmdirektor des für jegliche Schallplatten-Promotion so wichtigen Staatssenders BBC angelegt. Zudem, so war aus dem A & M-Büro zu hören, hatten einflußreiche Vertragskünstler, Funk-Jockeys, Großhändler und Mitarbeiter auf die Geschäftsleitung Druck ausgeübt.
Doch als dann endlich, nach drei vorausgegangenen Singles, Ende Oktober die erste Pistols-LP "Never Mind the Bollocks, Here's the Sex Pistols" (etwa: "Zum Teufel mit den abgewichsten Typen, hier kommen die Sex Pistols") von Virgin Records ausgeliefert wurde, führte der Rotten-Rock nach drei Tagen mit 100 000 verkauften Exemplaren die britische Hitparade an.
In der ganzen Geschichte des Rock 'n'Roll, schrieb die US-Postille "Rolling Stone", habe es keine derart seltsame Erfolgsgeschichte gegeben, und Johnny Rotten sei "der wahrscheinlich fesselndste Rock-Interpret, den ich jemals gesehen habe".
Bis der Gassenjunge in die Sex-Boutique des ehemaligen Kunststudenten und Sex-Pistols-Managers Malcolm McLaren stolperte und diesem durch sein bleiches Rattengesicht auffiel, hatte Rotten - nach dem Schulabgang mit 16 - Büros geschrubbt, beim Arbeitsamt angestanden und mit seiner Bande Passanten auf der Londoner King's Road tyrannisiert: "Wir spuckten sie an, aber glaubt bloß nicht, säe hätten sich verteidigt. Sie sagten nur: Haut ab - und liefen davon."
Rotten scheut kein Risiko. Vermut[ich weil er in seinem Song "God Save The Queen" die Königin als faschistisch beleidigt und ihr abgesprochen hatte, ein "menschliches Wesen" zu sein, zerschnitten ihm im Juni aufgebrachte Bürger, Mitte 30, Gesicht und Arm. Der für Sex-Pistols-Werbung zuständige Art Director von Virgin Records wurde nachts auf einer Londoner Straße bewußtlos aufgefunden. Passanten hatten ihm die Nase eingeschlagen und das Bein gebrochen.
Punk in New York: Maskeraden für eine Horror-Show
Auch die Pistols-Explosion letzte Woche in San Francisco entzündete sich an Rotten. Manager McLaren: "Wir beschlossen, Johnny aus der Band auszuschließen. Er ist einfach zu destruktiv."
Gewiß, fast alle Punks geben sich ein gewalttätiges Image und singen von Aufruhr und Tumult. Die blutigen Schlachten, die sich bei und nach ihren Rock-Bühnenexzessen gelegentlich zwischen Nadel-Buben und angepaßten Teddy Boys ereignen - im Juli wurden beispielsweise 23 Jungen und acht Mädchen nach einer Straßenschlacht von Londoner Polizisten festgenommen -‚ bezeugen aber nur das Ausmaß aufgestauter Aggression unter den Jugendlichen.
Punk ist gewiß kein Vorgriff auf eine enthumanisierte Zukunft wie etwa die futuristische Aggressivität in Kubricks Science-fiction-Film "A Clockwork Orange". Die Sex-Pistols-LP "Never Mind the Bollocks" bietet auch keine "fensterlose Vision des Kommenden" (New Yorks "Village Voice"). Punk ist eher ein Katalysator und der Reflex einer für viele Teenager unbewohnbar gewordenen Gegenwart.
Die Gewalt-Propaganda der Sex Pistols und ihresgleichen, sagt Manager McLaren, resultiere ausschließlich aus ihrem Durchsetzungswillen und der Reaktion der Öffentlichkeit darauf: "Gewalt kommt aus alleingelassenen, arbeitslosen Kindern auf den Großstadtstraßen."
Wenn also der junge französische Autor Patrick Eudeline in seinem Buch "L'Aventure Punk" die ganze Richtung als bloßen "Tanz des Beiwerks", als "das ewig jugendliche Spiel der Augenblicke" verharmlost ("Nichts ist wichtiger als die Mode, nichts hat einen anderen Wert als dazusein"), dann verfehlt er damit den Punk.
Denn Punk sei, schreibt der britische Jugendpsychologe Dr. Peter Marsh, "tief verwurzelt in den Sozialstrukturen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen dieses Jahrzehnts". Marsh, der an der Oxford University ein Forschungsprojekt über Aggression in der Jugend-Subkultur leitet, zitiert Songtexte für seine These, daß Punk unmittelbar aus Arbeitslosigkeit und Teenager-Frustration erwächst - zum Beispiel "London 's Burning" von den "Clash":
Now I'm in the subway looking for the flat.
This one Ieads to this block, and this one leads to that.
The wind howls through the empty blocks Iooking for a home.
But l run through the empty stone
because l'm all alone.**

Äußerungen wie jene von Stanley Clark, 25, Mitglied der "Nervous Eaters" in Boston, haben fast alle Punk-Rocker schon einmal gemacht: "Wir haben mit hübschen und weichen Sachen nichts am Hut, Mann. Wir haben's mit dem Leben zu tun, und das ist nun mal häßlich und gemein. Wir sind Straßenmusikanten, und wir machen Großstadtmusik, die an die primitivsten City-Instinkte appelliert."
So war es schon einmal - als die Beatles und mit ihnen rund 40 weitere Amateur-Beatbands Ende der fünfziger Jahre in Liverpool keinen anderen Ausweg aus Slums, Sozialgettos und Arbeitslosigkeit sahen als den, der sich mit der Elektrogitarre und rotzigem Rock eröffnen ließ.
Damals hatte das 1,28 Millionen Einwohner umfassende Industriegebiet an der Mündung des Mersey River die höchste Arbeitslosenziffer und die scheußlichsten Elendsquartiere in ganz England. Die Zahl der Verbrechen lag fast doppelt so hoch wie der Landesdurchschnitt. 43 Prozent aller Wohnungen waren Bruch.
Seither freilich ist das Problem Jugendarbeitslosigkeit zur weltweiten Katastrophe eskaliert. Gab es beispielsweise noch 1967 rund 71 000 Unterstützungsempfänger unter 20 in ganz England, so sind es heute mehr als dreimal so viele. In den USA waren im Juli vergangenen Jahres 5,1 Prozent aller Männer und 6,9 Prozent aller berufstätigen Frauen ohne Job - die Rate der Jugendlichen zwischen 16 und 19 lag dagegen bei 17,4 Prozent. Rund ein Viertel der Beschäftigungslosen in der Bundesrepublik ist unter 25, in Italien sind es sogar mehr als 60 Prozent.
Da kann es nicht verwundern, daß Schlagzeilen wie "Ganz schön leer, keine Zukunft, arbeitslos und zu Tode gelangweilt" aus den Songs der Sex Pistols auch außerhalb Großbritanniens ein so großes Echo finden. Da ist es nur folgerichtig, daß der Nihilismus der leeren, der nach dem Titel eines PunkSongs sogenannten Blank Generation eine derart destruktive und mitunter selbstzerstörerische Wendung genommen hat. 1976 zerstörten die Kinder der Nixon-Ära allein in den USA Schulen und Ausbildungsstätten im Wert von 600 Millionen Dollar.
"Sex Pistols"-Musiker Vicious, Rotten: "Ich liebe nur mich"
Punk-Musiker in London "Nihilistischer Wahnsinn"
Noch hat die Punk-Bewegung unter den arbeitslosen schwarzen Jugendlichen der USA und Großbritanniens kaum gegriffen. Die Kids in den Gettos reagieren ihren Zorn im jamaikanischen Reggae-Rhythmus ab. Daher lassen die weißen Punker den Reggae als einzige andere Rock-Spielart gelten - und umgekehrt. Eine gesellschaftliche und musikalische Begegnung zwischen schwarzen und weißen Outcasts scheint sich anzubahnen. Programmatisch läßt die englische Organisation "Rock gegen Rassismus" Punk- und Reggae-Gruppen stets zusammen auftreten.
Ein ganzes Jahr verbrachte der Baßgitarrist Sid Vicious von den Sex Pistols, der die Sicherheitsnadel als Mode-Accessoir erfunden haben soll, in England auf dem Korridor vom Arbeitsamt. Um endlich auf sich aufmerksam zu machen, versuchte er mittels einer Glasscherbe Selbstmord:"Das ist eine gute Möglichkeit, sichtbar zu werden, ich würde es jederzeit wieder tun."
Nicht so sehr materielle Armut - in den westlichen Wohlfahrtsstaaten ist ja für das Nötigste gesorgt -‚ vielmehr die Armseligkeit der Schulabgängern gebotenen Jobs, der "Career Opportunities", von denen die Band "Clash" singt, hat Punk als Jugendbewegung hervorgebracht. Die Musiker des Ensembles "The Damned" kommen zum Beispiel aus Berufen, die der brave Bürger ihnen dem Image gemäß zutraut: Zwei waren Toilettenwärter, der Sänger hat als Totengräber gewirkt.
Abgebrannt und arbeitslos, einer Kanonade unverstandener und unverdaulicher Nachrichten aus den Massenmedien ausgesetzt, entwickelt die "Blank Generation", die nach Ermittlungen der "New York Times" mehr Zeit vor dem Fernseher als in der Schule verbringt, zunehmend eine "Nach-mir-dieSintflut-Mentalität" (Kritiker Barry Graves). Die Droge Television, so Graves, habe dieser Generation den Sinn für Unschuld, Idealismus und Enthusiasmus verklebt.
Doch ehe diese "dritte Rock-Generation nach Elvis und Beatles/Stones" ("Frankfurter Rundschau") durch einen Zug am Stecker dem TV-Kick entsagt, brennt sie lieber ihr Leben im Alkohol-Exzeß (Haschisch ist out) oder im Pillen-Putsch ab. Für seinesgleichen, singt ein US-Punker mit dem Pseudonym Richard Hell, sei "das leere Bildschirm-Flackern nach Programmschluß als Minimal Art allemal genug".
Punks lieben Motorrad-Filme, MarIon Brando, Sado und Maso und die düsteren Thriller von Samuel Fuller. Doch der Reiz einer handfesten Prügelei ist ihnen manchmal lieber als ein noch so makabrer Second-Hand-Kick auf der Leinwand oder im Fernsehen.
Die meisten Fans, sagt ein "Clash"-Musiker, seien "nur dann zufrieden, wenn sie von der Ambulanz heimgefahren worden sind". Daher geht kaum ein Pogo-Tanzabend irgendwo in der Welt ganz ohne Blessuren ab - die Musiker selber liefern Anlaß genug.
Als ein Musikant namens Nazi Dog von der kanadischen Band "Viletones" letzten Sommer beim Stück "Auschwitz Jerk" Bierflaschen an die Wände einer Bar in Toronto schmetterte, richteten die Punker im Publikum mit Dolchen und Rasierklingen ein Blutbad an. Die Combo intonierte dazu beziehungsreich "You're Tearing Me Apart" (Ihr reißt mich in Stücke).
Politische Inhalte und Aussagen sind den Punkern prinzipiell fremd: Auseinandersetzungen einer Vorzeit, mit der Punk kaum noch etwas zu schaffen hat. Mag da "Chelsea" auch wie eine Gewerkschaftskapelle das "Recht auf Arbeit" einklagen, mögen die "Cortinas" ihr Stück "Faschistischer Diktator" in die Bestsellerlisten pauken - von Marx und Hitler haben sie, wie "Clash"-Sänger Joe Strummer eingesteht, "nur eben die Namen gehört".
Band-Namen wie "London SS" oder "Afrika Corps": purer Schock. Eiserne Kreuze, Hakenkreuze und andere Nazi-lnsignien an der Punk-Kluft: schlichte Provokation. "Wenn es der älteren Generation Angst macht - phantastisch!" sagt Tony James von der Londoner Punk-Gruppe "Generation X".
Und wenn Sex Pistol Johnny Rotten die Bundesrepublik im Stück "Holidays In The Sun" ein "neues Belsen" nennt und ein Sprecher seiner Plattenfirma dazu verlegen erläutert, damit seien die auch von britischen Touristen besuchten deutschen Campingplätze gemeint, dann weiß Rotten eben nicht (oder will es nicht wissen), daß im Konzentrationslager Bergen-BeIsen mindestens 50 000 osteuropäische Juden ermordet worden sind.
Adolf Hitler, mit diesem Spruch bringt sich das mittlerweile erblaßte Pop-Idol David Bowie beim Punk-Volk in Erinnerung, sei "der erste Rock-Star" gewesen: "Er hat ein ganzes Land in Szene gesetzt." Das vom Londoner "Observer" zitierte Punk-Mädchen Josie Rafferty, 18, gesteht indes, es habe sein Zimmer nur deswegen mit Hitler-Bildern dekoriert, "weil der die ganze Häßlichkeit seiner Zeit deutlich gemacht hat".
Westlichen Ideologen, kommentierte das FDJ-Zentralorgan "Junge Welt" in Ost-Berlin, sei "dieser politisch unwirksame Unmut einer enttäuschten Jugend" willkommen: "Mit runtergelassenen Hosen demonstriert sich's schlecht für wirklich erstrebenswerte Ideale."
Auf einem für die Punk-Problematik einberufenen Wochenend-Meeting britischer Kultur-Kommunisten gab es keinen Zweifel darüber, daß Punk als der "reaktionärste faschistische Trend in der gegenwärtigen Populärkultur" anzusehen sei. Auf der Vorderseite einer "Clash"-LP, dozierte der ins Mao-Lager abgedriftete E-Musik-Komponist Cornelius Cardew, sei immerhin ein Union Jack, "Symbol des Imperialismus", abgebildet, und auf der Rückseite agierten im Bild Polizisten: "Das ist Propaganda für den Staat."
Doch auch die englische "National Front", Sammelbecken des Rechtsextremismus, rückte nach anfänglicher und aus ungenügendem Wissen gespeister Begeisterung rasch wieder von der Punk-Bewegung ab. Und in Schweden wurden die Sex Pistols vergangenen Sommer vor allem von rechten Politstrolchen attackiert.
Punk sei, formulierte die französische Illustrierte "Paris Match" Mitte November, "ein neuer nihilistischer Wahnsinn nach dem Terrorismus in Westdeutschland".
Jederart Extremismus, auf der politischen Rechten und Linken, wollte zumindest eine Zeitlang die Punk-Bewegung für sich vereinnahmen, Punk aber entzieht sich (noch) jeder überkommenen Ideologie. Für fast alle Wertvorstellungen der Erwachsenen, für Mode und Musik aller Generationen vor ihnen, sogar für die Hippies und erst recht für Punk-Nachahmer aus der eleganten Welt, haben die Punks nur Worte der Verachtung übrig - oder blanken Haß.
Vor allem die Rock-Rebellen von gestern, die nichts mehr zu singen haben und dennoch nicht sind den Punkern zuwider. Paul McCartney, Elton John, Mick Jagger: nichts als fette, geldgierige Superstars im dicken Rolls-Royce, mit denen ein einfacher Fan nicht einmal mehr in der gleichen Toilette pinkeln kann.
Beschäftigungslose Jugendliche in New York: "Nach mir die Sintflut"
Durch den Punk-Rock ist die Popmusik aus den sechziger Jahren über Nacht alt geworden. Gruppen wie "Yes" oder "Emerson, Lake & Palmer", die mit Tonnen Bühnenelektronik im Wert von vielen 100.000 Dollarn nur noch in Mammut-Arenen auftreten und ohne ein Heer von Technikern, Beleuchtern und Promotern keinen Ton mehr hervorbringen können, sind dem einfachen Punk schon fast so fern wie Walzer und Swing.
Durch Punk, schwärmt der Basler Rundfunkredakteur Christoph Schwegler, sei der Rock'n'Roll wieder auf die Straße und zur schönen Primitivität seiner Anfangsjahre zurückgekehrt: Jeder könne mitmachen.
Wenn also die Band "The Damned" eine Platte mit den trotzigen Worten ankündigt: "Wir können schon drei Akkorde", wenn sich die "Adverts" in einem Songtitel als "One Chord Wonder" vorstellen, dann ist das keineswegs nur Ironie. Ein Londoner Punk-Blatt bildete als Spielanleitung für Gitarre das Griffbild des Akkords A mit dem Text ab: "Dies ist ein Akkord." Daneben das Griffbild für E: "Dies ist noch einer." Schließlich G: "Dies ist der dritte" und die Aufforderung: "Nun gründe eine Band."
Etablierte Popmusik-Kritiker wehren sich gegen den Punk-,,Dilettantismus" mit den gleichen Vokabeln, die ihre Vorgänger auch für Elvis Presley und die Beatles benutzten: einfallslos, lärmend, primitiv, brutal, zügellos, geschmacklos und gemein.
Dan Loggins in New York, Talentsucher der Plattenfirma CBS, verweist dagegen auf die musikalisch unausgereiften Startplatten der Beatles um 1961 und findet es "unfair, das Potential einer Band an deren ersten Produktionen zu messen". Schon sind Punk-Verfeinerungen zu hören, redet die Plattenindustrie, statt von Punk, von einer "New Wave". Und einige Punk-Texte immerhin zählte das "Time" -Magazin zum "Besten, was die Rockmusik in den letzten Jahren hervorgebracht hat".
Hatte der Schallplatten-Mogul Ahmet Ertegun noch vor Monaten im Punk-Club "C.B.G.B.'s" gestöhnt: "Ich sollte die Sex Pistols zu einem New York-Trip verpflichten und sie am Flughafen von fünf Muskelmännern zusammenschlagen lassen", so ließ er sie kürzlich tatsächlich verpflichten - als Künstler für den Warner-Brothers-Konzern.
Zuvor hatten andere Plattenbosse mit dem Pistols-Manager Malcolm McLaren um die amerikanischen Vertriebsrechte gefeilscht. CBS-Chef Walter Yetnikoff sang McLaren beim Frühstück im Beverly-Wilshire-Hotel sogar den ganzen Pistols-Text "Anarchy In The U.K." vor, um seine angebliche Begeisterung zu demonstrieren. McLaren: "Das sind Huren. Vor ein paar Monaten hätten sie uns noch vom Pförtner abweisen lassen, jetzt wollen sie alle mit uns photographiert werden, bloß weil wir ein paar Platten verkaufen."
Punk-Mädchen in London: Auffrischung für die internationale Schickeria
Punk-Mode in München Irrer Anklang Punk-Modell von Zandra Rhodes Adel aufgeschlossen
Ein paar? Inzwischen ist Punk-Rock Big Business. Obgleich vorerst nur wenige Funkstationen ihre Disc-Jockeys auf der neuen Welle reiten lassen, haben Schallplatten-Ladenketten in den USA den Punks ganze Sektionen ihrer Geschäfte eingeräumt. Kleine Underground-Musikfirmen wie Stiff in London oder Berserkley in Kalifornien bringen fast ausschließlich Punk-Ware auf den Markt; die großen Konzerne bezahlen gewaltige Garantiesummen, um sie vertreiben zu dürfen.
Natürlich sind auch Modemacher und die internationale Schickeria längst auf den Punk gekommen. Häßlich ist schön, Schock ist schick. Als die Pariser Nachtclub-Besitzerin Régine im vergangenen Frühjahr rund 1000 ihrer Freunde und Stammgäste zur ersten Punk-Party auf dem Kontinent bat, entstiegen die Superreichen in zerfetzten T-Shirts, Nadeln und Hundeketten ihren teuren Wagen. Ein paar echte Punks, die Einlaß begehrten, ließ Régine durch Gendarmen verscheuchen.
Als im Spätsommer die exzentrische Loulou de Ja Falaise, Assistentin von Yves Saint-Laurent, auf einer Seeinsel im Bois de Boulogne inmitten des Pariser Mode-Olymps ihre Hochzeit mit dem Sohn des Nymphchenmalers Balthus beging, trugen Gäste goldene Rasierklingen am Hals, und die Punk-Band "Stinky Toys" machte die Musik.
Zandra Rhodes, Londoner Modemacherin mit spinatgrünem Rettichkopf und schwarzumrandetem Gespenster-Make-up, rezipierte den King's-Road-Punk für die Couture, noch bevor Punk unter den Rockern ein Begriff war, geschweige denn in den Boutiquen vermarktet wurde.
Der Zandra-Rhodes-Punk ist ausgesprochen elegant; sie selber findet ihre Kostüme klassisch und "very Beardsley". Die süddeutsche Mode-Dame Maja Schultze-Lackner ("Maja of Munich") hat 20 Punk-Modelle importiert und selber neulich bei Heidi Brühls Personality-Show im "Bayerischen Hof" in einer Punk-Robe "irren Anklang" gefunden.
Baronin Renate von Holzschuher-Unruh, berüchtigte Jet-Setterin, ließ sich gleich ein Modell reservieren. Von Majas teurer Klientel ist vorerst vor allem der Adel für Punk aufgeschlossen. "Die Direktoren-Frauen trauen sich nicht. In deren Kreisen", meint Maja, "gilt Punk noch für total übergeschnappt. Da machen die Männer nicht mit."
Klar, ein richtiges Kellerkind holt sich seine Punk-Mode vom Müll. Aber der Punk von Halbwelt kauft in Berlin bei "Burghard's" und in Hamburg im Punk-Shop am Abendrothsweg. Sex-Pistols-Manager McLaren und dessen Lebensgefährtin Vivienne Westwood halten in ihrer Londoner Boutique "Seditionaries" neben Second-Hand-Fummel unter dem Transparent "Kleidung für Helden" auch mancherlei Nazi-Orden bereit, weil "das so interessante Dekorationen" sind.
In den Boutiquen "Schmutz" und "Boy's" an der Londoner King's Road können sich Kunden frischgekaufte Kleidung mit Blut bespritzen und ansengen lassen. Auch das große Kaufhaus Macy's in New York offerierte unter dem doppeldeutigen Slogan "Dressed to Kill" T-Shirts mit Löchern und Brandflecken sowie durch Sicherheitsnadeln zusammengehaltene Fetzen für 16 Dollar das Stück. Hauptattraktion des Pariser Punk-Shops "Survival" im Hallenviertel ist ein angeschnallter toter Pilot auf einem aus Zinnblech zusammengelöteten Schleudersitz. Unter dem Sturzhelm rinnt Blut über sein Gummigesicht.
Kulturkritiker mögen darüber rätseln, warum denn diese blutige Horror-Show derzeit so vielen Ausgeflippten, und nicht nur dem jugendlichen Lumpenproletariat, den allerletzten Kick beschert. Ist es nur die Trendustrie der Musikproduzenten, Modemacher und Medien, die alles begrüßen, was frischen Wind in ihre erschlafften Segel bläst? Oder werden durch Punk Saiten angeschlagen, die in der westlichen Industriegesellschaft gegenwärtig einen breiten Resonanzboden finden?
Nachdem die Sex-Welle in der permissiven Gesellschaft abebbt, bordell-ähnliche Massage-Salons bis nach Austin, Texas, als angesehene Gewerbebetriebe florieren, kaum ein westdeutscher Gemeinderat noch ernsthaft gegen ein Eros-Center votiert und sogar Beate Uhse ihren Porno-Großhandel angesichts zu großer Konkurrenz einstellt, fällt die Gewalttat als neue verbotene Frucht einer reizgeilen Öffentlichkeit geradezu in den Schoß.
Liebe galt dem Sex-Pistol Johnny Rotten nur mehr als "zwei Minuten und 50 Sekunden quietschendes Geräusch", das zeige, "daß dein Kopf nicht richtig tickt". Mit ihren ungeputzten Zähnen und ihrer abstoßenden Aufmachung bezeugen die Punks schick aufgeputzten Mädchen bloß ihren aus Frustration erwachsenen Abscheu. "Girl" ist im Punk-Slang ein Schimpfwort und bedeutet weibisch. "Ich habe kein Gefühl für niemanden außer mir", hechelte Johnny Rotten in "No Feelings": "Ich liebe nur mich, du Hure, mein herrliches Ich."
Insofern zeigt Punk auch eine fortschreitende Entfremdung zwischen den Geschlechtern an. Nachkommen sind unter diesen Umständen nicht mehr erwünscht. In "Bodies", Rottens Song über die Abtreibung, der sich ein namenloses Mädchen aus Birmingham unterzieht, kommt der Embryo als widerlich blutiger Klumpen zur Welt. Niemals zuvor, urteilt die New Yorker "Village Voice", habe sich in der Popmusik so viel Haß artikuliert.
Da ist es wohl nur ein makabrer Maskenball, zu dem sich die Schickeria derzeit mit Punk-Fetzen dekoriert. Ohne Kenntnis der Motive, die den Straßen-Punk hervorgebracht haben, sagt der Pariser Mode-Star Karl Lagerfeld, dächten die "allzeit wetterwendischen Opportunisten", nach der Nostalgiemode käme jetzt Punk: "All jene Leute, die sich noch vor ein paar Jahren auf Hippie frisieren ließen, wollen sich nun mittels Punk auffrischen."
Das geht alles vorüber. Punk wird alsbald Patina ansetzen wie alle abseitigen Moden zuvor. Denn auch ein Punk-Musiker, der Tantiemen aufs Konto schaufelte und sich im Mercedes chauffieren ließe, wäre ein Widerspruch in sich. Bereits mit den ersten Millionen-Hits gehört eine Band, mag sie auch noch so rotzig weiterrocken, nicht mehr zum Punk.
Diesen Punkt hat die Bewegung vielleicht jetzt schon erreicht. Nur in den verfallenen Industriebauten Londoner Vorstädte, nur in Provinzkneipen, wo junge Arbeitslose ihre ersten Akkorde einüben, schreibt der Punk-Experte Peter Marsh von der Oxford University, könne man Punk noch als jene Volksmusik entdecken, "die dieses Idiom trotz aller Ausbeutung heute noch ist".
Daß mit dem großen Vermarktungsrummel der ursprüngliche Impuls verlorengeht, daß da "irgend etwas schiefläuft", ahnen auch Punk-Musiker wie die "Stranglers", die gehörig Schallplatten verkaufen. ‚.Da stehen wir auf der Bühne und singen ‚No More Heroes' (Keine Helden mehr)", bekundet "Stranglers"-Sänger Hugh Cornwell, "und unten sitzen Abertausende von Fans, die uns zujubeln. Es scheint, daß wir den Mythos, den wir zerstören wollten, noch weiter ausbauen."

(Quelle: DER SPIEGEL 23.1.1978) - Zu den Leserbriefen

* Gideon Sams: "The Punk" Polytantric Press, London. 62 Seiten; 1,50 Pfund.
** Etwa: "Ich fahr' mit der U-Bahn und such' ein Zuhause. Dieser Zug führt mich in diese Gegend, jener in eine andere. Der Wind pfeift durch die verlassenen Häuser, sucht auch ein Heim. Ich irre durch die leeren Wände, bin ganz allein."


Fresse / Information Overload