Macher?
Macht? Moneten?

Aus grauer Städte
Mauern (Teil 3)

Die Jungs von der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft
konnten's kaum fassen: "Gleich zweimal hintereinander
hat der John Peel die Mittagspause gespielt, und dann auch noch
Materialschlacht - nur in der falschen Geschwindigkeit." Was Englands inzwischen
40jährigem Discjockey beim BBC nur recht kommt und auch Alan Bangs in Köln ab und
an ins Programm schiebt, das sollte dem SFB oder NDR doch ebenso recht und billig
sein. Aber die westdeutsche Punkszene hat bislang, von einigen obskuren Sendungen
abgesehen, Sendepause. Ob ein Radio "Freier Albrecht" da Abhilfe
bringt, dürfte allein schon bei dessen Vorliebe für anderes deutsches
Liedgut eine vergebliche Hoffnung sein. Warum auch auf die
gängigen und gar kommerziellen Kanäle bauen, wenn
sich die neue deutsche Welle selbst helfen kann?


Von Alfred Hilsberg

Bald drei Jahre sind seit den ersten Plattenverträgen deutscher Punk/New Wave-Bands ins Land gegangen; die Straßenjungs, vielen als Vorgruppe der ersten Clash-Auftritte noch in schlechter Erinnerung, dürften der CBS mehr Sorge als Profit gebracht haben. Die Verkaufszahlen der ersten LP der Big Balls & The Great White Idiot aus Hamburg waren selbst für die Teldec überraschend hoch; aber die zweite LP war dann das Aus der Zusammenarbeit. Jetzt, im November '79, stehen die Big Balls zwar in neuer Besetzung und mit neuen Stücken da, aber mit der Punkszene in Hamburg haben sie auch nicht viel zu tun.
Anders als in England, wo die Konzerne schnell zugriffen und aus den Anti-Helden neue Stars aufbauten, hat sich die Bewegung in Westdeutschland aus eigener Kraft und daher viel mühsamer entwickelt. Nach fast drei Jahren gibt's endlich die ersten Labels mit selbstproduzierten Platten, einige Clubs, in denen Auftritte möglich sind, eine eigene Presse, Festivals, viele Ideen - und einige Macher, von denen wesentlich der Fortgang der Geschichte abhängt. Klar, daß nicht nur Ideen eine Rolle spielen, sondern auch Geld. Nur kann man das eben so oder so ausgeben. Für eine Punk-Boutique oder für ein Punk-Label. Oder läuft das etwa aufs Gleiche hinaus?

Der Zensor träumt

Burkhard der Zensor -
faustisch?

Eine musikalische Städte-Geschichte wollte ich eigentlich nicht schreiben (wie einige Leser irritiert kritisierten). Denn Einflüsse hier ergeben Parallelen dort. Die eine Band aus Düsseldorf hat eine andere Gruppe aus Berlin kennengelernt. In Hamburg. Und beide mögen dieselben amerikanischen Platten. Mit den Bedingungen an der (politischen) Landschaft hängt sicher vieles zusammen, mit der eigenen (musikalischen) Vergangenheit, mit der Lebenssituation in der Stadt. Irgendwer, ich glaube es war PVC, hat mal den Wall City Rock erfunden. Mit der 'besonderen Lage Westberlins' hat sicher vieles in der 'Frontstadt' an Inhalten und Formen zu tun. Mit der Situation des Ausländerghettos im Besonderen auch. Dort befand sich einer der beliebtesten Wallfahrtsorte für Westdeutschen Punk-Touristen und Westberliner New WaveSchickeria, das SO 36.
Andy und Kippi (ja, der auch schon von Hamburg her berüchtigte Selbstdarsteller Kippenberger) machten bis zum Sommer '79 das SO 36. Zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Ratinger Hof in Düsseldorf traten dort englische und amerikanische Bands auf, und auch einige einheimische. Nicht nur am mangelnden Lokal-Kolorit schieden sich die Geister über das SO, auch die Getränke- und Eintrittspreise gerade im Kreuzberger Ghetto waren zum Beispiel für politische Gruppen wie Katapult/Auswurf geradezu eine Provokation. Was an Auseinandersetzungen darum lief, SOUNDS hat es genügend berichtet. Das SO 36 hätte eines der wichtigsten Zentren für die neue Welle bleiben/werden können. Aber Kippi und Andy haben es schließlich aufgegeben. Ihre New York-Orientiertheit erreichte am Abschlußabend ihren Höhepunkt. Zum Knallen der Sektkorken spielten Teenage Jesus und Lydia Lunch. Und der Eintritt betrug 40 (in Worten: vierzig) Mark.

Berliner Graffiti

Da fallen die Feste, wenn der Zensor sie feiert, doch etwas gemäßigter aus. Zur Eröffnung seines winzigen, im Rock'n'Roller Shop Blue Moon eingezwängten Plattenlädchens in Schöneberg, spielten einige Berliner Bands auf der Straße auf. Bis die Polizei kam... Aber das war erst der Anfang. Burkhard Seiler's Zensor-Hirn träumt nicht nur "von einer Nacht mit Brigitte Bardot irgendwann in den 80er Jahren", er arbeitet auch noch an der Realisierung von anderen tollen Ideen. Im Keller unter dem Laden können Bands spielen, ein Fanzine hat er schon mal gemacht, er redet mit den bei ihm einkehrenden Gruppen über deren Musik und Zukunftspläne, verschickt Platten aus England und den Staaten, läßt sich auf zwei wodkahaltige Nächte in Hamburg ein und lacht auch dann noch, wenn er am nächsten Morgen den Zug zurück nach Berlin verpaßt: "Aber ich muß doch den Laden aufmachen!"
Der Zensor ist ein Macher, wie er eigentlich in jeder Stadt gebraucht wird (es kann/sollte auch Macherinnen geben). Zwar setzt er sich selbst auch schon mal an die Trommel, bevor oder nachdem er Bach gehört hat. Aber er versucht eben mehr durch Organisation das Ding, die neue Welle, in Gang zu bringen. Und da er nicht davon leben kann, daß in seinen Laden "auch sehr viele Mädchen reinkommen", betreibt er jetzt auch einen Großhandel für deutsche New Wave-Platten und für eine Vielzahl englischer kleiner Label wie Rough Trade und Small Wonder. Aber alles was des Punks Herz und Kopf begehrt, hat er nicht da. Denn schließlich will er sich in der Auswahl der Platten auch selbst wiederfinden. Und das unterscheidet ihn zumindest von einem gewöhnlichen Kleinkrämer oder Großhändler.
(An dieser Stelle von Berlin wollte ich noch einfügen, daß der Achim Butzmann aus meinem letzten Artikel eine Fiktion ist und die dieser Fiktion unterschobenen Äußerungen selbstverständlich dem Frieder Butzmann zuzuschreiben sind. Okay, Frieder?)
Eva, die Saxofonistin, die aus Düsseldorf kommt, sagt: "Am Rhein hat sich ja schon Ende '76 was entwickelt. Hier mußt du ja erstmal zum Südpol fahren, um jemand zu treffen. Aber beim Burkhard geht's jetzt los."
Probleme mit Übungsräumen sind dadurch nicht gelöst, und mit dem besetzten UFA-Gelände ist wohl auch nicht viel für die Neue Welle zu holen, weil da schon andere Gruppen seit zehn Jahren drauf warten. Gutsortierte, aktuelle Importläden wie der Zensor haben vor allem deshalb eine wichtige Funktion, weil sie als Kommunikationsort funktionieren. Sowas läßt sich in Westdeutschland suchen und nur mit Mühe finden.

Höre - staune - gute Laune

Das Rock ON in Düsseldorf hat sicher die zehnfachen Ausmaße des Zensor-Ladens. Und neben New Wave- und Reggae-Import-Scheiben findet sich auch Rock-Vinyl. Denn anders, so versichert Rock ON-Inhaber Udo, könne er gar nicht überleben. In Duisburg hat er nun seinen zweiten Laden aufgemacht.

Carmen, die Macherin

Jeden Freitagmorgen, wenn die neuen Importe da sind, stehen die Düsseldorfer Bands Schlange, um sich von Udo mit den vom NME angepriesenen neuen Trends unterm Arm wieder davon machen zu können. Und Udo brachte auf eigenem Label auch die erste LP von Male heraus, sicher eine der ersten selbst-produzierten Punkscheiben ‚auf bundesdeutschen Punkboden. Der wäre noch fruchtbarer als für 1000 Auflagen gewesen, wenn sich Rock-Udo auf einen, wenn auch alternativ organisierten, Vertrieb eingelassen hätte.
Male will jedenfalls die ZENSUR ZENSUR-Platte nicht nochmals auflegen, schließlich hat die Band neue Aufnahmen gemacht die für die Zukunft (noch) mehr versprechen. Erscheinen soll die neue Male-Platte, ihre erste Single, auf dem Düsseldorfer Rondo-Label. Ein gewisser Franz Bielmeier ist Initiator und Inhaber dieses Labels, das keinen Vergleich in der BRD erlaubt.
"Höre-staune-gute Laune" heißt das Motto von Franz und seiner Frau Heike mit ihrem aus einer Erbschaft selbstfinanzierten Unternehmen. Der Franz hat lange gewartet, bis er mit seinem Geld ein derart aufwendiges und zukunftsträchtiges Projekt startete. Bisher war er "nur" Gitarrist und auch eine der Seelen von Mittagspause, machte ganz früher das legendäre und wohl mit das erste westdeutsche Fanzine "The Ostrich". Und er war immer gut für das Gerücht, er würde bei Mittagspause aussteigen. Jetzt halten er und Heike die Zeit für gekommen, ein eigenes Ding zu machen, das vielleicht vergleichbar mit Stiff oder Chiswick in England - der neuen Welle hier einen wichtigen 'kick' verpassen könnte.
Rondo ist keine ähnlich-lautende Waschmaschinenfirma und kein Tanz nach alter Welle sondern eine ambitionierte, ganz subjektiv arbeitende 'Firma', die nicht alles unter Vertrag nehmen wird, was schräg oder/und rheinisch klingt. Die vier ersten Scheiben wurden von Monroe mit seiner eigenen Band Mittagspause und mit Male, ZK und der Session-Band Aqua Velva produziert. Ein aktueller Querschnitt durch die heutige Düsseldorfer neue Welle. Und da Franz genügend finanziellen Background hat, dürfte die Zukunft von Rondo recht rosig sein. Mit Anzeigen, Badges, T-Shirts und einer Package-Tour will es auf sich. aufmerksam machen und beitragen, die neuen Töne aus dem Rheinland über Insiderkreise hinaus zu verbreiten.
Der Monroe und die Heike haben sich Informationen über das wer-wo-wann und wie selbst angeeignet, denn Vorbilder für ein derartiges New Wave-Label gibt es allenfalls in England. Rondo wird nicht alles veröffentlichen, was an Bändern mit Sicherheit demnächst auf dem Schreibtisch landen wird. Denn für die Rondo-Inhaber steht nicht so sehr die Altersversorgung im Mittelpunkt sondern die Inhalte der Arbeit.
Ähnlich verfahren will auch die Berliner Band Tempo. Auf eigenem Label haben sie bereits eine Single und eine EP veröffentlicht. Die Band will anderen Berliner Bands ihre Erfahrungen weitergeben und ihnen unter Umständen auch das Label zur Verfügung stellen. Tempo und auch Din A Testbild machen gerade ihre ersten selbstorganisierten Tourneen durch einige Städte Westdeutschlands - kein kommerziell erfolgreiches Unternehmen, denn meist springen nicht mehr als ein paar hundert Mark für die Unkosten heraus. Große Hallen haben an der neuen Musik - noch - kein Interesse und dürften für manche Bands auch nicht der richtige Ort sein, um in direkter Kommunikation mit dem Publikum zu spielen. Also konzentriert man sich auf die wenigen Clubs in Düsseldorf, Hamburg, Berim, Herne, Dortmund, Lübeck, Herford, Dortmund, Gelsenkirchen, Köln, Kiel, Wuppertal. Da hört's auch schon fast auf. Denn sowohl die Hannoverschen Bands wie auch die Bremer Gruppen, um nur zwei Städte zu nennen, haben Schwierigkeiten, geeignete Räumlichkeiten für Auftritte zu beschaffen. Mal haben die Inhaber, oft ist es die Stadt, kein Interesse, mal wird das Entgegenkommen durch Punk-Schläger kaputt gemacht.

Milchmix-Front

Westliche Wandzeitung - Werbung für's SO 36

Pionierarbeit für die westdeutsche Punk/Neue Welle-Szene haben teilweise sicher das SO in Berlin und der Ratinger Hof in Düsseldorf geleistet. Ingrid und Carmen führten den Laden in der Altstadt mit einem Publikum, das auf Roxy Music stand. "Bis eines Tages der Markus von Mittagspause mit einem Stapel Singles auftauchte und auflegte" erzählt Carmen. Sie merkte, daß da was in Gang kam, änderte das Konzept der Kneipe, brachte viel Licht rein und den Schnickschnack raus. Schnell wurde der Laden Treffpunkt der Leute zwischen Wuppertal und Köln, die sich für neue Musik interessierten.
Bereits die ersten Gigs, - Suicide aus Köln waren auch da, dann auch Din A Testbild, Wire und schließlich die Düsseldorfer Gruppen, - wurden von Carmen fotografiert und die Dias im Hof gezeigt. Carmen: "Das war unheimlich wichtig, solchen Konzerte in Düsseldorf durchzusetzen, denn hier war sonst nix los." Ob nun Kommunikation oder Konkurrenz - der Hof hatte für die Rhein-/Ruhr-Szene eine entscheidende Bedeutung. Und umgekehrt lebte der Hof von den Gruppen. Janie-Peter von Mittagspause sagt: "Die Carmen weiß, daß der Hof auch uns viel verdankt. Sie findet uns einfach wahnsinnig toll und weil sie findet, daß das für die Nachwelt erhalten bleiben muß, hat sie die Doppel-EP mit uns gemacht. Wenn da Geld bei rauskommt, geben wir das sicher nicht für Plektrons aus."
Der Ratinger Hof hat zwar nicht zu, aber unter anderer Regie laufen nur noch selten Auftritte dort. Eine Übergangslösung für die neuen Gruppen war/ist das Okie-Dokie in Neuß - bis Carmen ihren neuen Laden in der Altstadt aufmacht. Wenn dort, wie zu hören ist, zum Beispiel Milchmix-Getränke ausgeschenkt werden sollen, dann wird das sicher was ganz Besonderes. Außer ihrem derzeitigen Kampf mit den Behörden um Lizenzen hat Carmen auch noch mit dem Problem zu kämpfen, wie sie zum Teil bewaffnete Gestalten erst gar nicht in den neuen Laden reinzulassen braucht.
Von sich reden machte in letzter Zeit auch eine andere Initiative. Eine ganze Reihe Düsseldorfer Punks haben sich zusammengetan und den "Pop Club" gegründet. Der Club will als eingetragener Verein arbeiten, hat auch schon etliche spendende Mitglieder und will Auftritte für Gruppen aus Deutschland und sonstwoher organisieren. Vorläufig im Okie-Dokie, später in einem eigenen Raum.

Krawall im Krawall

Krawall 2000 mit
Rundbögen

Ähnlich will eine Hamburger Initiative vorgehen, die sich aus den Erfahrungen des Krawall 2000 gebildet hat. Seit dem Frühjahr laufen dort, in einer auch als Treffpunkt bestimmter linker Kreise geltenden Kneipe, jeden zweiten Freitag Auftritte einheimischer und auswärtiger Punkbands, Wie die Bands, so das Publikum. Und wenn der Hamburger / Braunschweiger! Bremer Pogo-Sound ertönt, sind die 150 drinnen bald schweißgebadet und wechseln sich dann mit den 150 draußen Wartenden ab. Für drei Mark Eintritt der einzige Fun in der Woche, den viele haben. Andere als Pogo-Truppen haben es schwer, ihren Auftritt zu überstehen. Hans-a-plast aus Hannover mußte das erfahren, und selbst die Pop Rivets aus England kamen nur mühsam bei den auf Krawall-Sound eingeschworenen Punks an.
Damit's den Etablierten nicht schwarz vor Augen wird, hier ein Bericht aus der Zeitung "Rock Musik" (Nr. 3): "Das Krawall ist zu einem Treffpunkt für die (echten) Hamburger Funks geworden. Die Atmosphäre ist fähig, man reagiert den Nervkram des Tages ab, manchmal ein bischen ruppig und mit Bier, aber das ist alles völlig harmlos und vor allem ehrlich. Wir finden, daß das Krawall das Beste ist, was musikalisch in Hamburg überhaupt passieren konnte und wir hoffen, daß der Laden wenn nicht am Fischmarkt - er wird auch langsam zu klein - woanders weiterläuft."
Hamburgs neue Welle wird überwiegend bestimmt von Freizeit- und Anarcho-Punks, die ihr Lebensgefühl 'kidgemäß' bestätigt sehen in harten, schnellen Stücken, zu denen sich englisch klar besser singen läßt als deutsch. Alles andere wird als "ätzend" abgetan. Und wenn jemand erzählen will, daß er auch mal neue Töne aus England hört, dann muß er das fast heimlich tun.
Diese neue Welle in Hamburg findet anders als in Berlin, Düsseldorf oder Hannover fast unter Ausschluß von Intellektuellen bzw. künstlerischen Kreisen statt. Selbst der seit Jahren in der Szene sich herumtreibende Kiev Stingl hat es nur zu einer relativ kleinen Fan-Gemeinde gebracht. Woran das liegt? Hans Punk von den Geisterfahrern sagt: "Vielleicht ist das Krawall ja der richtige Ausdruck für diese Stadt. Hier ist eben alles ein wenig heavier als woanders: der Kiez, die Trabantenstädte, die Marktstraße, das Krawall. In Düsseldorf ist alles viel schicker, da mußt du schon mit schrägen Sachen auffallen."
Aktiv sind nur wenige der Hamburger Punks. Etwa sechs bis acht Leute organisieren die Auftritte so gut sie können neben Schule oder Beruf in ihrer Freizeit. Sie haben schon lange gemerkt, daß das Krawall zu klein ist und wollen einen neuen, eigenen Laden aufziehen. Dort sollen dann auch endlich andere, neue Gruppen auftreten können, sollen Filme gezeigt werden, kurz: ein täglicher Treffpunkt entstehen.

Krawall-Eugen und Rip Off-Klaus

Eugen, gerade 20, und Klaus, Mitte 20, sind zwei der Macher in der Hamburger Szene. Eugen macht neben dem Krawall das am weitesten verbreitete Fanzine Westdeutschlands, Pretty Vacant. Und er hilft ab und zu in Klaus' Rip Off-Laden aus. Anders als früher in der Alternativ-Szene sah Klaus alias Max alias Ivan Rip Off im Punk einen neuen Ansatz von Selbstverwirklichung. Sein Laden und der Vertrieb von selbstgemachten und importierten Badges läuft einen schmalen Grat zwischen Kommerz und Kommunikation. Noch überwiegen für Klaus die lebendigen Seiten: "Selbst beim Versand kommst du mit Leuten in Korrespondenz, und im Laden läuft das noch viel direkter.'' Der Laden hat sich zu einem, in Westdeutschland wohl einmaligen, Punk-Kaufhaus entwickelt: von amerikanischen New Wave-Zeitungen über T-Shirts und Importplatten aus USA und England bis zu zwei Dutzend Fanzines gibt es dort fast alles, was zum Outfit und zur Information gehört. "Ableger" von Rip Off sind ein Plattenversand nur für "deutsche Wellenreiter", wie das Motto heißt, und das Veranstalten von Konzerten, für die das Krawall zu klein ist.
Wie für den Zensor mit seinen Platten, ist es für Klaus Rip Off schwer, allein schon den Überblick über alle Fanzines zu haben, die aus allen deutschen und schweizer Landen im Laden eintreffen. Auch wenn in diesen, größtenteils in geringen Auflagen (zwischen 10 und 1500) und meist fotokopierten Zeitungen oft 'nur' die Vorliebe für bestimmte englische Bands oder lokale Gruppen sich ausdrückt - diese Fanzines sind eines der wichtigsten Kommunikationsmittel in der bislang von den großen Medien verschonten Szene.

Punk Nachwuchs in Hannover

Die oft beschworene Anti-Konsum- und Anti-Star-Haltung der Punks ist allerdings nur in geringen Ansätzen durchbrochen. Was für den Disco-Typen das Trinity am Samstagabend, ist für den Punk das Krawall am Freitag. Die wenigen Macher (wo bleiben sie denn nur, die Macherinnen) haben die Fäden m der Hand, oft auch die ideologischen. Wenn sich zum Beispiel in Jürgen Kramers Zeitung "Die 80er Jahre" avantgardistische Tendenzen artikulieren, da wendet sich der "echte" Punk ab. Lager- und Cliquenverhalten bis hin zur Feindseligkeit wird bei Auftritten gegen bestimmte Bands gerichtet oder in den Fanzines ausgespuckt. In die Zukunft?
Also spricht/schreibt 360° Jürgen Kramer in einem Brief an Hannovers Punk-Apostel Holger: "...danke für die berechtigte & schöne Kritik der 80er Jahre. Elitär? Ja natürlich! Punk hat mich '77 aus den Klauen der roten Wichser gerissen. Ja natürlich. MUSIC FOR PLEASURE von den Damned hat aus Marzxcks einen alten Furz gemacht. Punkseidank. Endlich meldet das Individuum seine Ansprüche an. Aber die Sache ist nicht stehengeblieben. Und 'Punk um des Punk willen' hat mich nie niemals nie interessiert. Deshalb: keinerlei Klassendenken ("Gossenkinder" gegen "Elitäre", s. No Fun), keinerlei Bequemlichkeit und freiwillige Verblödung, kein Kindergarten wird mich davon abhalten, die hohen Ansprüche und Vorstellungen zu realisieren, die ich mit New Wave verbinde. Wer da lediglich (Anarcho-) Power musikalisch presentiert erwartet, um den Tag am gesellschaftlichen und industriellen Fließband besser durchstehen zu können, der sollte lieber einen Schuß nehmen oder zu den Rollers laufen. Damit hat nun New Wave wirklich nichts zu tun. Inzwischen bin ich zwei Jahre in der "Bewegung" alt geworden. Und Punk ist ein einziges Scheitern geworden. Gut so! Das Scheitern ist unsere Welt. Draußen entwickelt sich alles zum Schlimmeren. Gut so. Wer verdient es nicht, sang- und klanglos unterzugehen." Und nach einigen schönen Zitaten über Vernichtung und Hoffnung schreibt Jürgen: "Denn die (gemeint sind Teenage Jesus & The Jerks, Verf.) überzeugen da viel eher. Denn die haben für ihre Inhalte die entsprechende Form entwickelt. Und das überzeugt erstens und ist zweitens "Kunst". So, und wenn man jetzt mal den Arsch hebt und folgert, dann muß man aus all dem zu dem Schluß kommen, da wo das Individuum sich wirklich autonom formuliert in dieser Katastrophe, gerät es unweigerlich in den künstlerischen (-musikalischen) Bereich, macht es erstmal Kunst. Die Wahl sieht also nur so aus: entweder die Sprache der Herrschaft und der Macht oder Kunst. Wer also gegen die neue Kunst (neue Welle) polemisiert, macht sich unweigerlich zum Fürsprecher der Macht und zum Mörder am Individuum, zum Selbstmörder So, mit freundlicher Absicht sei dies den Hamburger Punks (nein, DU bist natürlich ausgenommen!) ins Stammbuch geschrieben, wie so vielen Linken auch.

Get in the Peep Show

In Hannover treffen sich die Punks, die sich fur die richtigen halten, im Punkcafe Anderes Ufer. Die aktiveren, mehr von der Künstler-Szene beeinflußten Leute haben ihr Domizil im Fillmore. Hollow Skai ist dort (fast) jeden Abend anzutreffen. Neulich haben sie dort einen Punk-Sportverein gegründet. Und nur der Umstand, daß sie dort in Jogger-Hosen und Trainingsanzügen herumsaßen, bewahrte die Nordstadt-Niggers und andere Nordstadt-Fans vor einem etwas brutaleren Zugriff einer angereisten Hamburger Rockergang.
Hannover sei Provinz, wie Holger-Hollow zugibt: "Hannover ist kulturelle Provinz, und das ist das Gute an dieser Stadt, weil aus der Langeweile eine neue Kreativität entsteht. Würde ich mich nicht langweilen, könnte ich kein No Fun etc, machen, würde ich keine Erfahrungen machen. Wenn wir uns der Monotonie des Alltags nicht aussetzen würden, gäbe es nur die Alternative New York City oder Selbstmord. Aber erstere wäre nur für eine bestimmte Zeit attraktiv, da sich der Reiz solcher Städte aus der Nähe oft anders darstellt und letztere wäre keine Lösung. Anyway, die Nordstadt ist in Hannover der einzige Ort, wo ich noch leben kann, aber auch nur, weil wir von Zeit zu Zeit in andere Metropolen reisen, Kontakte halten, für ekktion sorgen. Wir nehmen den lokalen Aspekt, den die neue Welle hochspülte, ernst."

Hollow Skai

Performances, Workshops, Lesungen usw. sind in der ersten November-Woche im Rahmen der "Get in the Peep Show" in Hannover angesagt. Einen Zuschuß von der Stadt gab es nicht, und da müssen sich auch Kid P. und Donald Fuck, die Guerilla-Filmer aus Hamburg, zweimal überlegen, wie sie ihren Aufwand finanziert bekommen, mit ihren Filmen nach Hannover zu reisen.
Egal ob eine Band eingeht und eine neue entsteht, der ein Club dicht macht und ein neuer Laden geplant ist, ob die einen die neue Welle bereits zur alten erklären Punk/New Wave haben auch in Westdeutschland für einen Aufbruch gesorgt. Die Zukunft dieser Welle wird sicher nicht in selbstgenügsamen Freitagnacht-Feten liegen sondern in alltäglicher Aktion, in täglichen kleinen Revolutionen, wie es Kid P. mal unübertroffen ausgedrückt hat.
Viele Aspekte sind in diesem Artikel noch nicht angesprochen worden, viele informelle Details sind unter den SOUNDS-Tisch gefallen (ja, ja, die Seitenzahl). Nicht erwähnt: daß es auch in Hamburg selbstproduzierte Platten gibt, daß allerorten New Wave-Festivals stattfinden, und vor allem: daß sich in der Provinz was tut.
In Beantwortung manchen Leserbriefes (und auch mancher Drohung) sei nochmals, wie schon zu Beginn dieser Serie gesagt: nicht eine Chronik oder ein Lexikon der westdeutschen Punk-Szene ist angesagt, sondern ein Einstieg für viele, die außen stehen, und Diskussions-Material auch für einige, die "drin" sind. Nicht so sehr meine Meinung wollte ich verbreiten, sondern die vielen Meinungen aus der Szene. Für SOUNDS wird dieser Bericht, hoffe ich jedenfalls, erst ein Anfang sein. Und deshalb sei auch versprochen: das nächste Mal gibt's mehr über die Provinz, über Bremen, Kiel, Stuttgart (hallo Germar!), über Rinteln (hallo Bobbie!), wie man Platten macht, und Adressen undundund...
Letzte Meldungen: In Hamburg tut sich was. Im Rip Off-Laden spielten Holger Hiller (Geige, Synthesizer) und Chris Lunch, Synthi-Spieler aus Kalifornien. Und am 29. Dezember findet (wieder in der Markthalle) die dritte Hamburger Punknacht statt. Und die 80er Jahre haben längst begonnen.

Sämtliche Fotos: Sabine Schwabroh

(Quelle: SoundS 12/79)


Provinz-Punk

Ich habe mich riesig über Eure neue Serie "die neue deutsche Welle" gefreut. Endlich erfährt man mal was über die Punks außerhalb Westfalens. Aber auch hier gibts Gruppen: "Roolators" in Minden, "Joung Savage" in Damme, "Abschaum" in Dosten, "Schizophenia Girls" (man achte auf die Schreibweise) aus Haltern und "V.I.P." aus Lippramsdorf.
Die Gruppe mit der ältesten Tradition ist sicher Abschaum. Sie entstand 1977 aus Mitgliedern der Gruppen "Lipp-City-Fetzers" und "Nervenschock". Nervenschock waren die erste Punk-Band in unserer Gegend. Schon 1976 machten sie astreinen Punk, obwohl man damals diesen Ausdruck noch nicht kannte. Die Gruppe vertonte z.B. "Die Kraniche des Ibikus", sie spielten laut und waren wild und von musikalischem Können war nicht viel zu sehen. Trotzdem hatte die Gruppe einige eingeschworene Fans, die von Nervenschock sehr begeistert waren. Die Berichte von dem Anfängen der Sex-Pistols oder Berichte von den alten Stooges und MC5 erinnern mich immer wieder an die damaligen Auftritte der Nervenschock. Nach der Auflösung der Gruppe gründeten der Baß- und Orgelspieler und der Drummer eine neue Gruppe, die Triby. Sie widmeten sich von da an dem Klassik-Rock a la Ekseption und E.L.P. und waren für den Punk verloren. Stefan C. Maus, Gitarrist und Sänger der Gruppe, schloß sich dann den Lipp-City-Fetzers an und nahm das Erbe der Gruppe Nervenschock mit. Dadurch ist es auch zu erklären, daß sich die, nun in Abschaum umbenannte Gruppe, mit nur zwei Auftritten 1978 einen Namen machen konnte. Heute hat sich die Gruppe gefestigt und wird in Kürze wieder auftreten. Nun - die wenigen Auftritte von Abschaum begeisterten einige Fans so sehr, daß sie selbst eine Band zusammenstellten. Die "V.I.P.". Gleich bei ihrem ersten Auftritt sorgten sie für einen Skandal, als sie in Marl vor verblüfftem Publikum beinahe das "Vet-Rock-Vestival" platzen ließen. Die V.I.P. haben keine eigene PA und sind so gezwungen, auf Rock-Wettbewerben oder Festivals zu spielen, wo eine solche zur Verfügung gestellt wird. Der Schock in Marl zog eine Kettenreaktion hinter sich her. Einige weibliche Fans gründeten spontan eine eigene Band und spielten nach nur 1 1/2wöchiger Probezeit, in der auch die Songs geschrieben wurden, eine eigene Gruppe, die "Schizophenia Girls" und spielten beim nächsten Festival in Haltern, wo auch die V.I.P. wieder zuschlugen...
Peter Oeldemann,
4358 Haltern 6

(Leserbrief in SoundS 12/79)


Fresse / Information Overload