Oben v.l.: Aktion in Ratinger Hof / Deutsch-Amerikanische-Freundschaft / Punketten. Mitte v.l.: Wohnwand / Mittagspause im Okie Dokie / Decollte. Unten v.l.: Peter von Tempo / Ted auf New Wave-Terrain / Jürgen + Mark von DIN A TESTBILD.

Neue Deutsche Welle
Aus grauer Städte Mauern

In Westdeutschland und Westberlin findet eine neue Musik statt. Sie wird gemacht und wird gehört. Einige nennen es immer noch Punk und wollen es sein. Andere wissen mit diesem Begriff nichts mehr anzufangen. Dutzende von Gruppen arbeiten in Wohnzimmern, Übungsräumen, Studios. Manche spielen, um sich und ihren Fans Spaß zu bringen. Andere haben ernstere Ansprüche, entwickeln Konzepte, neue Töne. Und arbeiten mit deutschen Texten. Sie spielen in wenigen Clubs, organisieren bereits erste Tourneen. treten auf Lastwagen auf. Keiner lebt von der neuen Musik, Sie gehen arbeiten, zur Schule, studieren, nehmen Kredite auf, wohnen zu hause oder in einer Kommune. Manche sind erst 15, andere bald 30.


Von Alfred Hilsberg

Die 'neue Welle' ist schon lange nicht mehr Anhängsel der angloamerikanischen Rock-/Punk-Tradition. Die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem Leben hier und heute, schafft neue Inhalte/Formen. Über diese Arbeit geht diese Artikelserie. Ich will niemand zur neuen Supergruppe machen und andere verreißen; Beschreibungen und Erklärungen von den Leuten selbst sollen für sich sprechen, zum Verstehen und zur Auseinandersetzung beitragen. Im ersten Teil dieser Montage aus Interviews, Zitaten aus Fanzines, Auszügen aus Liedtexten usw., geht es vor allem um die Entstehung, die Geschichte einiger Leute, um die Konzepte und das Selbstverständnis von Bands, ihre Texte, ihre politisch-gesellschaftlichen Bezüge. Ein ABC der bundesdeutschen Punk-Szene, chronologisch und vollständig, ist heute wohl kaum zu leisten (wozu auch). Hans Keller hat mir sehr geholten, vor allem mit den Gesprächen in der westberliner Szenerie.

Oben v.l.: Monroe von Mipau / Irokesenschnitt. Mitte v.l.: Kids / Auswurf / DAF. Unten v.l.: Wwwiauuu! / Katapult / S.Y.P.H.

Konzepte / Arbeit

Frank Fenstermacher, so heißt er wirklich, macht bei Plan mit, die sich schon mal Weltaufstandsplan nannten und jetzt in Düsseldorf arbeiten. Zu viert. Frank: "Wir haben schon den Anspruch, was anders als Produkte und Live-Auftritte zu machen für nur wenig Leute, nur für Eingeweihte. Wir wollen das für alle machen im Grunde - auch mit dem Risiko, daß wir auf Unverständnis stoßen und rausgeschmissen werden. Das haben wir ja in Hamburg schon beim Auftritt in der Markthalle praktisch erfahren."
"Als erstes tritt der Weltaufstandsplan in kraft (oder besser gesagt in krampf). Das warn zwei leute: stimme/synthesizer und gitarre/stimme. Einer war der mann von art attack... wer davon schon gehört hat, weiß, was von der bühne kam: keine musik!!! Geräusche, lärm texte: abstrakte gedicht aufsagen: kurz - der gegensatz von rock'n'roll, totale mittelstandskultur, oder anders: nich mein fall..." (Aus: Preiserhöhung, Fanzine aus Bächen bei Hamburg)
Frank: "Damit will ich Leuten nicht für immer und. ewig gegenübertreten Ich möchte auch gern Rock'n'Roll-Gitarre spielen können. Aber so wie es jetzt ist, entspricht das meinen Fähigkeiten.!
Chris, er macht den Synthisizer auch bei der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft: "Da findet ein Austausch statt zwischen Leuten. Das schafft mit der Zeit die Möglichkeiten, mit verschiedenen Leuten was zu machen, nach eigenen Dingen zu suchen,"
Thomas von der Düsseldorfer Gruppe Mittagspause: Wir zählen einszweidreivier, aber haben keine Lederjacken an. Vielleicht liegt's daran, daß wir für eine Kunst-Rockgruppe gehalten werden, Also ich kann es mir nicht erklären. Vielleicht liegt es an diesem Diktafon und dem Quietschen vom Xerox-Band auf der Platte von uns." Peter, ihr Sänger: "Die Düsseldorfer tanzen dazu." Thomas: "Die kennen uns. In Hamburg war auch ein schlechtes Konzert, Vielleicht ändert sich durch die Platte da was." Peter: "Wenn man die Texte kennt, dann kann man anders reagieren als beim ersten Erleben, Das geht ja auch bei englischen Bands so."
Thomas: "Die Musik von Mittagspause hat sich vor allem durch Markus und den Monroe (alias Franz Bielmeister) entwickelt. Der Markus mit seinem humtata-Schlag, und der Monroe mit seinem etwas abgehackten Gitarren-Rhythmus. Da das durchgehend ist, entsteht ein Konzepteindruck. Es ist einfach ein eigener Stil, das Zusammengehen verschiedener Spielarten an den Instrumenten." Peter: "Ich weiß nicht, wie so was geht. Der Monroe schreibt das nicht, der fängt das einfach an..."
Din A Testbild in Westberlin arbeitet in wechselnden Besetzungen seit fast zwei Jahren, ganz früher als Din A 4. Gitarrist Jürgen: "Unser Konzept hängt von der jeweiligen Umgebung und der eigenen Stimmung ab. Es ist nicht festgelegt, was gemacht wird. Wir streiten uns auch sehr viel vorher. Einer will in die, der in die andere Richtung. Wir haben schon immer sowas wie jetzt gemacht, vorwiegend improvisiert. Die Selbsterfahrung ist vorgegeben. Wer den meisten Druck gibt, fängt auf der Bühne praktisch an. Jeder steigt auf jeden ein."
"...Mittagspause. Mittagsschlaf würde besser zu ihnen passen. Die vier mit Kapitänsmützen uniformierten Jungs ?) erinnerten mich an 'Mainz leibt Mainz' und das mag ich als 'sturer Hamburger' sowieso nicht. Dank des Komikers am Drums' der wohl besser als Murmeltier zur Welt gekommen wäre, als Wirbel zu versauen, waren die Jungs nicht gerade die schnellste, Truppe. Oh, wie bin ich doch heute milde. Aber starke deutsche Texte..." (Aus "Pretty Vacant" Nr. 5, hamburger Fanzine)

Simple Sachen, etwas Elektronik

Gode spielt Gitarre bei der hamburger Pogo-Band Coroners, zu deutsch Totengräber. Jörn singt. Er sagt: "Im ersten Moment machen wir schon für uns Musik, aber auf jeden Fall für andere Leute als diese Punk-Künstler aus'm Ruhrgebiet. Materialschlacht und so. Die stellen sich hin und sagen: Guckt her, was machen wir doch für abgehobene Sachen!" Gode: "Ja, die mit den Kapitänsmützen. Die können sich was drauf einbilden, daß sie deutsche Texte machen und modern sind - aber schwachsinnig! Solche Gruppen wie Ultravox und Devo, das ist doch die Musik für moderne Rentner. Ich hab lieber hundert ehrliche Punks als tausend unehrliche." Eugen ist/war Coroners-Fan und manchmal deren Manager, gibt Pretty Vacant heraus, organisiert Konzerte im Hamburger "Krawall 2000": "Den Hamburger Punk kann jeder machen, das find ich gut daran. Das ist wirklich einmalig in Deutschland, diese Szene, in der es ja eigentlich nur die harten Dinger gibt."
Die Geisterfahrer sind eine quasi synthetische Formation in Hamburg. Die vier kamen zusammen, um den Auftritt beim "In die Zukunft"-Fest im Juni in der Markthalle mitzumachen. Mathias arbeitet mit Synthi und Bändern: "Der Grundgedanke war: simple Sachen, etwas Elektronik, Geige, sphärische Sachen..." Michael singt, er sagt: "Was ham wir schon fürn Konzept? Ich denk schon daß wir mit dem Markthallen-Programm auch ungefähr ins Krawall könnten. Wenn man davon ausgeht, daß nur diese Coroners-Typen ins Krawall kommen, ist das natürlich so eine Sache."
Hans "Hauspunk" Keller, der - wie ihr alle wißt - bei den Geisterfahrern mal dies, mal das macht: "Das Merkwürdige war, ein Buttocks-Fan kam nach unserem Auftritt hinter die Bühne und fand das toll. Besonders die Simpel-Sachen." Matthias: "Bei mir ist die Zentralstelle. Aber wir arbeiten eigentlich nicht zu viert, schon weil es zu eng ist im Zimmer. Aber auch, weil der eine mit dem anderen besser zusammenpaßt. Also ist kein Stück 'unser' Stück. Jeder gibt das rein, was er an Ideen hat. Das läuft dann zusammen. Wenn du das in der Theorie hörst, dann wirkt das nicht. Vom Ergebnis her schon. Es kann wohl keiner behaupten, das sei kalt oder sowas."
"Die Geisterfahrer kommen aus Hamburg und haben mich angekotzt wie schon lange nichts mehr. Die ersten Stücke wieder mit Geige. Rhythmus kam aus Synthesizer - kein Schlagzeug. Die Texte waren so ungefäihr das saudümmste, seit Heintjes Heidschi Bum Beidschi. Zum Kotzen! Höhepunkt des Auftritts: Alle Mitglieder der Gruppe wechselten sich am Schlagzeug ab, jeder durfte einmal Originell, nicht? Da hätten ruhig ein paar Bierdosen mehr fliegen können." (Aus HCL, Fanzine aus Düseldorf)
Peter von Mittagspause: "Geisterfahrer? - Es gibt Schlimmeres..."
Mona Lisa heißt eigentlich Sylvia James, kam vor etlichen Jahren aus England, war eine ganze Zeit politisch links organisiert, versucht schon lange fortschrittliche Kulturarbeit zu machen, arbeitete an der Zeitung "Einige Millionen" mit, gibt das "Magazin für Verliebte" raus und arbeitet mit der Gruppe Materialschlacht. Sylvia: "Ich könnte nicht behaupten, daß ich Musik für Massen mache. Ich mache das in erster Linie für mich selbst. Ich versuche schon, Vorstellung, die ich habe, zu vermitteln. Ob die Leute das verstehen, das bleibt denen Überlassen. Aber ich denke schon, daß es Leute gibt, die sich dabei was denken."
"Materialschlacht - Nicht erwähnenswert." (Aus Rock Musik Nr.3, Hamburger Rock-Zeitschrift)
Marius ist Gitarrist bei der Berliner Gruppe Tempo, die bereits ihre zweite Single herausbringen wollen: "Wir haben schon den Anspruch, Rock'n'Roll zu machen. Tanzmusik. Auch wenn mit Tanzmusik von vielen immer noch mit Tanzschule verbunden wird. Wir verstehen uns nicht als reinrassige New Wave-Band. Eher schon als Band, die 60er Jahre Musik im Stil der 80er Jahre spielt. Die deutsche Klamauk-Ecke ist ja mit Lindenberg abgedeckt. Da könnte man ja eher noch Peter Kraus anführen. Der hat das ja manchmal noch gut gepackt. Also ich fand in den 60er Jahren die deutschen Bands am besten, die sich an die angloamerikanischen Traditionen angelehnt haben. Was dann Ende der 60er als Krautrock rauskam, war ja furchtbar dagegen. Jetzt gibts vielleicht was Neues, aber das entsteht eher im Ruhrgebiet als hier. Aber das ist noch gar nicht überschaubar."
Gudrun war früher bei Din A 4 und Testbild. Jetzt möchte sie mit anderen Frauen die berliner Gruppe Mania D bilden: "Was wir machen, muß klar und deutlich werden, nun kenn ich die anderen erst seit einer Woche. Das hat sich so spontan ergeben. Für unsere Richtung gibt es keinen Namen. Es wird nichts sein, was von voriger Woche ist. Wir werden in dem, was passiert, drin sein." Eva bläst, Saxofon: "Ich bin so heiß auf Saxofon... aber die doofen Nachbarn." Gudrun: "Bei Bettina von Testbild im Haus haben sich schon drei Leute umgebracht, in der Zeit, wo sie da Saxofon gespielt hat. Dann hat sie damit aufgehört."

Oben v.l.: Sxplfp? Zlmnxp! / Jacky / Monroe von Mipau / Noch 'n Ted (you are welcome).
Unten v.l.: Mittagspause / Kids

Texte, deutsche und englische

"Lieber Alfred! Beiliegend einige Songtexte von Materialschlacht. Mehr konnte ich nicht finden bzw. auftreiben, da sie überall in der Wohnung verstreut rum liegen. Nun ja, die Texte, die ich dir schicke, sind auch Texte, die wir schon musikalisch verarbeitet haben. Unser Schlagzeuger (Uwe Bauer) und ich schreiben die Texte, teils zusammen, teils getrennt. Es ist verdammt schwer, sinnvolle deutsche Texte überhaupt zu schreiben. Wir sind nicht unbedingt mit unseren Texten und ihren Aussagen zufrieden - wir experimentieren ziemlich viel mit Text und Musik. Wir haben und hatten viele Texte, die wir auch musikalisch nicht umsetzen können. Wir wollen unbedingt nicht nur gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln in den Texten, sondern in der Zukunft auch versuchen Visionen, Träume, zerstörte Hoffnungen des Individuums zu vermitteln. Wir wollen auch nicht, daß die Texte so vordergründig sind bzw. daß ein Inhalt nur durch die Texte vermittelt wird. In der Kombination von Text und Musik soll der Text die musikalische Idee und Aussage unterstützen. Für eine neue, andersartige eigenständige Form von Musik braucht man auch neue Formen bei den Texten, Auch neue Im halte, denn schlechte Farm = schlechter Inhalt. Die praktische Umsetzung dieser theoretischen Ideen ist wesentlich schwieriger als die Ideen, die unserer Arbeit zugrunde liegen. Wir haben kein so klares Konzept dabei außer daß wir eine experimentelle Gruppe bleiben wollen, versuchen wollen uns von der Rockmusik und von Punkklischees zu befreien, versuchen die Grenzen der konventionellen Rockmusik zu überwinden, zugunsten einer musikalischen Form, die jeden von uns seinen eigenen individuellen Spiel- und Freiraum gibt Von den gesellschaftlichen Verhältnissen ausgehend ein negatives Lebensgefühl vermittelnd über die gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus gehend, Systeme ablehnend, das Individuum hochhaltend. Es ist vielleicht sehr vage, aber wir möchten uns auch selbst keine Ketten anlegen.
So das wärs. Den Kommentar zum Punkfestival in Hamburg in der SOUNDS fand ich ganz gut. Die heile Welt des Punks ist wirklich kaputt. Punk und New Wave werden eines Tages sang- und klanglos untergehen (u.a. auch aufgrund von Spalter- und Sektierertum). Es wird aber dann nicht eine Frage des Weitermachens oder Aufhörens sein, sondern eine Frage des Weiterverarbeitens, des Weiterdenkens, des Weiterkämpfens... blah blah blah. I remain Mona Lisa."

nicht heiß/nicht kalt/-lauwarm-/nicht für/nicht gegen/-gleichgültig-/nicht du/nicht ich/niemand/Du bist nicht radikal/Du bist nicht konform/Du hast Angst/Du bewegst dich nicht/Du hast Angst/Du bewegst dich nicht/Du bist nicht statisch/Du bist gelähmt/gleichgültig gleichgültig/ (Text von Mona Lisa)
Peter erzählt, wie das Stück "Testbild" von Mittagspause entstanden ist: "Da kam der Monroe aus Dortmund zurück und hatte schon "3 x Nordpol" geschrieben. Und dann haben wir bei mir Bratkartoffeln gegessen. Es war mitten im Karneval. Und dann sagte er: So, jetzt schreiben wir Texte. Dann hat er sieh das Testbild angesehen. Aber es fiel ihm nichts weiter ein als diese Wochentage. Dabei haben wir es bewenden lassen."

Lasker-Schüler / Talking Heads

Jürgen spielt Gitarre bei der Düsseldorfer Gruppe Male, die es nun seit fast drei Jahren gibt: "Der Song 'Risikofaktor' ist entstanden. als wir im Kaufhaus eine Frau gesehen haben, die umgekippt ist und mit den Haaren inner Rolltreppe hängenblieb."
Risikofaktor 1:x (Male) Rolltrepppe Rolltreppe/Eisen und Stahl Rolltreppe Rolltreppe/sinnlos brutal Hochofen/Hochofen/Hitze und Glut Hochofen Hochofen/Schweiß und Blut Risikofaktor 1:x Die Neue Zeit kommt gewiß

Frank Fenstermacher von Plan sagt: "Ich habe früher schon mal Texte gemacht allerdings literarische. Im Zusammenhang mit der Musik ist das mehr konstruiert, aber ich habe trotzdem ein Anliegen. Es ist schon eine Leistung, vom Versmaß, vom Reim her. Es ist wie ein Schulaufsatz zu einem Thema, was dich nicht berührt. Aber ein guter Aufsatz." Eva von Mania D. sagt: ‚Ich hin Else Lasker-Schüler-Fan. Ich. übersetze ihre Gedichte ins Englische, im Deutschen geht das nicht. Wir machen englische und deutsche Sachen. Deutsch ist sehr schwierig. Das ist erstmal Material" Beate: ‚‚Die Sachen von Talking Heads sind gut, da sind Parallelen in den Texten, das ist sehr offen. Bei Wire imgrunde ähnlich, nur sind die verschlüsselt."
Gode von den Coroners sagt: "Englische Texte gehen einem leichter von der Hand. das is auch ne geilere Sprache, wenn man so richtig aggresiv sein will, kann man sich besser damit ausdrücken. Auf deutsch kannste kaum einen Text zu dieser Musik machen. Die Texte versteht man live ja kaum. das hat ja deshalb auch kaum Wirkung beim Publikum" Darauf Mike von den Hamburger Buttocks: "Da bleiben schon Sachen hängen, Schlagworte. Zum Beispiel beim Wort 'Anarchie' flippen die Leute aus."
"MolIis und Steine Gegen Spießer und Schweine " (Text der berliner Frauenband Ätztussis)
Hans hat die Kreuzberger Gruppen Katapult, Auswurf und Ätztussis besucht: "Katapult wohnen in der Kreuzberger Waldemarstraße, einer jener letzten Parallel-Straßen vor der Abgrenzung nach 'drüben', im dritten Hinterhof links lebt die Punk-Kommune sozusagen mit dem Rücken zur Mauer. Katapult haben schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht, sind mißtrauisch. Blitz von Auswurf: "In der 'tageszeitung' brachten die mal 'n Bericht über uns mit dem Titel 'Sex & Drugs & Rock'n'Roll', total bescheuert." Und von SOUNDS halten sie wohl auch nicht allzuviel. An einem trüben Nachmittag sitzen so zehn Leute von den Gruppen in einer Ecke des großen Wohnraumes. Locke, Schlagzeuger von Katapult, hat sich die Haare auf einer Kopfseite rot gefärbt. Zwei von Ätztussis sind da, sie betreiben um die Ecke einen 'antifaschistischen Nähladen', außerdem Olaf, White Punk, Reno Kid und Blitz von Auswurf. Katapult sind eine Kommune, wollen eine Kommune sein, die Bezeichnung Wohngemeinschaft wird zurückgewiesen. Katapult: "Uns gibt es seit etwa 77, da ham wa den ersten Text geschrieben. 'Alles Scheiße' heißt der, gegen die Kontrolleure, gegen Razzien und so."
Schmeiß den Cocktail (Katapult)
Morgens früh um 7 mußt du wieder ausm Bett/Um etwas Kohle zu haben latscht du zum Arbeitsamt/Du hast die Schnauze voll/Weil sie dich wieder verarschen wollen /Aber diesmal läufts anders Seit einem Jahr nun keinen Job/Wer arbeetet schon gerne Du machst es nur wegen dem Geld/Damit du nicht verreckst Wie die tausend vor dir/Du machst nen schlechten/Der Magen knurrt/Aber diesmal läuft: anders/Schmeiß den Cocktail durch die Scheibe/ Tausend Splitter fliegen umher/Alles kreischt hysterisch rum/Und du schnappst dir die Kasse/Endlich wieder Kohle/Damit du nicht vereckst/Fressen Saufen Fressen Saufen/Diesmal wars anders

Ich bin ein Original-Punk

Der KFC und Fans in Hamburg, in der Mitte: Eugen, eher besinnlich

Über einen Auftritt in dem Westberliner Trabantenviertel Gropiusstadt berichten Katapult: "Das war wohl das härteste, was wir bisher gemacht haben. Da waren Punks, aber auch so Bodybuilding-Discotypen. Leute, die auf Schlägerei aus waren. Dann hat Katapult gespielt, aber fast noch normal, ein paar Flaschen zu Bruch. Dann ham die als Pausenmusik einen deutschen Schlager eingespielt, da sind diese Disco-Leute klar drauf abgefahren - da war es gelaufen. Als Auswurf anfing, gingen die Rempeleien richtig los. Die ham auch den Stecker rausgezogen und so. Die Sozialarbeiter konnten da auch nicht mehr viel machen. Irgendwie spielte dann Auswurf noch zu Ende. Als alles abgebaut war gings draußen weiter. Bis zu U-Bahn ham se die Punks noch verfolgt. Die Punks da draußen kriegen ja ständig eins auf die Schnauze.
Die Kreuzberger Punkgruppen scheinen eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Punk- und New Wave-Szenerie zu sein, von ihrer Praxis, von ihren Ansprüchen, von ihrer Herkunft. Olaf von Katapult: "Ich komm' direkt hier ausm Viertel, ausm Ghetto. Meine Eltern sind so Proleten, wa. Die wünschn sich 'n Auto, aber ham keins. Eben normal. Kohleheizung un so. Die anderen kommen zum Beispiel aus der Nähe von Gropiusstadt.
Neben dem Wohnraum von Katapult ist der mit Graffitti total vollgeschriebene Übungsraum, recht gut ausgebaut. Probenraum-Probleme, wie sie für die meisten Gruppen typisch sind, kennen Katapult nicht. Im gleichen Stockwerk befindet sich eine Lederkleidungs-Werkstatt. Katapult ändern, machen und reparieren Ledersachen, Motorradkleidung und Ähnliches. Davon und von anderen Jobs hält sich die Kommune. Die Lederwerkstatt macht einen professionellen Eindruck. Ist das alles 'alternativ'? Katapult: "Für uns nicht, für uns ist nichts anderes denkbar und machbar. Alles andere Leben ist keine Alternative."
In Hamburg, auch in Düsseldorf, wird von einer Mittelstands-Szene gesprochen, wenn von Punk die Rede ist. Frank von Plan: "Sicher ist in England der Punk zum Teil aus der Arbeitslosigkeit entstanden. Hier, zum Beispiel bei Male, gibt es die Situation einer gelangweilten Mittelschicht, die Revolte gegen das Elternhaus." Robbi ist Schlagzeuger bei Deutsch-Amerikanische Freundschaft und Plan. Er sagt: "Ha! Ich komme von ganz unten, gar nicht daher, wo die alle herkommen. Ich bin Original. Punk! Hahaha! Ja, ja, ausm Knast, ausm Heim komm' ich. Da mußte dich durchsetzen, da gibts die gleiche Konfrontation wie im Big Business. Vielleicht bin ich deshalb auf diese Musik gekommen. Oder durch den
Chor? Freitags mußten wir immer singen, "Aus grauer Städte Mauern", die Nationalhymne und so. Mit 15 habe ich beschlossen Musiker zu werden, jetzt bin ich's. Dann bin ich erstmal den klassischen Weg gegangen, dann auf die Jazzhochschule in Österreich. Aber ich wollte was eigenes machen. 77 kam ich nach England. Das hat mich unheimlich beeindruckt, das war alles neu für mich. Und da mußte ich mich fragen: Wo biste eigentlich drauf? Jetzt, hier mit den Leuten von DAF, habe ich mich erst entwickelt. Ich hab manchmal den Eindruck, daß ich erst jetzt die Gefühle, die ich in London hatte, realisieren kann. Die eigene Entwicklung und die Umwelt, das kommt zusammen."
Die meisten Düsseldorfer (Male, Zentralkomitee) und Hamburger (Coroners, Razors, Buttocks, Copslayers und so weiter und so fort) Punks sind nicht mal oder gerade 20, gehen zur Schule, manche sind in der Ausbildung. Fast alle leben zu Hause. Andere studieren, arbeiten irgendwo halbtags, haben was geerbt, machen Schulden, machen Musik in ihrer Freizeit. Peter von Mittagspause arbeitet bei einer Computerfirma und wohnt zu Hause: "Ich kann mir kaum vorstellen, das full time zu machen, jeden Gig zu jedem Geld zu machen, weil du davon leben mußt. Da geht der ganze Spaß weg."
Gudrun in Berlin hat mit Bettina von Testbild einen Laden aufgemacht. "Eisengrau" heißt der und da werden Klamotten verkauft. Gudrun: "Ich leb' schon etwas von den Tageseinnahmen des Ladens. Jetzt will ich zur Kunsthochschule, Visuelle Kommunikation. Die andern existieren ähnlich, sind Studentinnen, aber das bringt nix.

T.Rex / Sweet

Niemand in der deutschen New Wave-/Punk-Szene kann von der Musik leben, auch wenn er/sie es wollte.
Emirat 030 gehört zu den 'Geheimtips' in Westberlin. Sie haben, wie üblich, keinen Übungsraum. Entsprechend ist ihre Spielpraxis. Ein spontaner Gig für den Redakteur von SOUNDS. Hans: "Die Musik wird durch Matsch's Baß etwa im Geiste von Public Image geprägt. Blixer, der ungeheuer dünne Sänger, improvisiert seine deutschen Texte. "Deutschland - Marschmusik...!" Es hinterläßt Betroffenheit. Alles schwankt zwischen Wackligkeit und Intensität." Matsch ist auf dem Interviewband' unschwer rauszuhören; er redet meistens, handelt sich des öfteren den Unwillen der anwesenden Frauen ein. Matsch, eine (typische) Berliner Geschichte:
"Als Kleinkind bin ich ans Radio gegangen und hab' furchtbar aufgedreht - willste das hören? Ich bin 17, in Berlin geboren, komme aus Spandau, aus der Szene da. Willste das höre? T. Rex, Sweet und so, war so'n Powerkram. Dann die Hippiezeit. Da hab' ich ne Gitarre gekriegt, das einzige waren Rückkopplungen, ich konnte ja nichts. 76 war ich in England, bin mit meinem Onkel zum Pistols-Konzert. 100 Club. Hat mich nicht besonders beeindruckt erst. Etwas später fing ich doch an, das cool zu finden. Hab 'ne Band mit ein paar Typen aus der Schule aufgezogen. Da draußen gibts das Ballhaus. In die Stadt sind wir nie gefahren. Da hat sich nichts geändert. Ich wohne weiter zu Hause. Irgendwann lief das mit dem Punk House an aufm Kudamm. Die Klamotten, der ganze Abklatsch. Gedanklich war das schon das Gleiche. Und gings vielleicht nicht wie East End Kids, aber es war schon tierische Langeweile da. Unsere Gruppe hieß Wall."
Die Wall spielten auch bei dem legendären Mauer-Festival im SO 36, letztes Jahr zum 13. August. Wayne County fand die Jungs toll. Für Zugereiste ist die Entwicklung der Gruppen kaum zu überblicken, die Fluktuation hatte Hoch-Zeit. Matsch: "Den ersten Auftritt hatten wir mit PVC und den Stuka Pilots bei 'ner Rockerfete. Die Stukas waren ja komisch drauf, so Kids aus Kreuzberg mit Nazi-Abzeichen. Wir ham 'ne reine Fun-Sache gemacht, so richtige klischeemäßig, wir war'n ja alle noch Schüler. Im Punk-House für Drinks gespielt. Einige sind sitzengeblieben und durften nicht mehr spielen. Nach dem SO-Festival ist nichts mehr passiert. Der Gitarrist haute ab, weil er sich nur für Mädchen interessierte. Wir haben eben was gemacht für Leute in unserem Alter. Die mit den Sicherheitsnadeln kommen heute noch an und sagen, hey Wall und so. War richtig zum Identifizieren, weil nichts richtig klappte. Bei Ffurs bin ich rausgeflogen, weil ich nicht Baß spielen konnte. Hab' dann zehn Stunden Unterricht genommen. Und dann kam andere Musik, der Burkhard mit dem Zensor-Laden. Das war dann nicht mehr so kidmäßig."

Politik / Zeitgeist

Der Sänger der buttocks aus Hamburg

In Spandau ist es immer noch langweilig, sagt Matsch: "Da hängen 25 Mann mit drei Mädchen rum, die gehn zu Konzerten, saufen sich voll, machen mal was. Ja, da gibts noch die Neon Babies. Und eine heißt Pocketrausch. Das sind die ganz jungen Kids. Vor drei, vier Monaten haben die gerade die Pistols entdeckt." Mark Brummer spielt die Gitarre bei Din A Testbild: "Im Märkischen Viertel stehn sie auf AC/DC, das ist ja alles Beton da, aber is' schon okay. Die kommen da nicht raus. Aber die sind so stark die Typen."
Detroit fällt mir ein, die totale Autostadt in den USA. Die totale Langeweile. Und dann die Stooges. Und MC 5. Krach - mitten rein in Beton und Blech.
Die Linken hierzulande tun sich ganz schwer mit der neuen Musik. Wie mit jeder Bewegung, die mehr mit Fantasie als mit Lehrbüchern zu tun hat. Matsch von Emirat: 1 "Die pickten sich die Klischees raus, Nazi und so. Dann kam plötzlich Rock Gegen Rechts da pickten sie sich das raus. Tom Robinson, das war plötzlich in! Die checken doch gar nicht mehr ab, was in der Realität läuft, auch die Alternativler nicht. Die kommen mir manchmal vor wie Opas. Die kriegen nicht mit, daß die Kids nicht mehr auf lange Haare stehen." Die Düsseldorfer Male werden für eine politische Gruppe gehalten. Für manche Punks auch wegen äußerer Parallelen zu den Clash. Jürgen von Male: "Wir wissen schon, daß wir damit irgendwie verwechselt werden. Wolln wir aber nicht. Deshalb werden wir vermeiden, mit diesen Klamotten nochmal aufzutreten. Politisch sind wir schon, "nur nicht parteipolitisch. Das finden wir doof!" Gode vom den Hamburger Coroners: "Bei Politik fällt mir nur Strauß ein, Schmidt und Genscher, also das is doch öde. Wenn, dann machen wir Anti-Politik... Anarcbie, klar, is auch Politik. Aber bloß keine Partei! Wir wollen sagen, was einen anödet, das kann Politik sein. Das kann 'n Typ sein. Aber echt: Strauß müßte mal Kanzler werden, dann würden einige Leute endlich mal ihren Haß loslassen!"
1. Mai (Auswurf)
Ich hoffe dieser/1. Mai wird der letzte sein/Den die alte Welt erlebt/Ich hoffe dieser 1. Mai wird der letzte sein/Den diese Scheißwelt noch erlebt/Schlagt die letzte Stunde/Schlagt die letzte Stunde/ - Vor Arbeit und Langeweile/Schlagt sie tot Die nächste Sekunde! - Wird die letzte sein
Jürgen von Testbild: "Nee, zu den Kreuzbergern haben wir keine Kontakte. Hängt wahrscheinlich mit zeitlichen Problemen zusammen. Sonst wäre ich öfter mal hier und da. Was den politischen Anspruch angeht, naja... wenn der musikalische Anspruch nicht dahinter zurückbleibt..." Frank von Plan: "Wenn ich in einer politischen Gruppe arbeite, ist das halt beschränkt. Ich muß mir aber schon überlegen, was heute zu tun ist. Punk war die erste Bewegung, die ich mitbekommen habe." Olaf von Katapult: "Meist spielen wir gratis. Wenn für Geld, dann machen wir Benefiz-Konzerte für Leute im Knast und so. Am 1. Mai haben wir aufm Laster gespielt, weil wir da Bock drauf hatten. Das ham wir aus eigener Tasche bezahlt. Den Generator haben wir von der TU bekommen." Gode: "Die müssen's ja haben... Haben die denn da Absperrungen gehabt? In Hamburg würde doch keiner irgendwie Geld spenden, wenn da nicht ne Absperrung wäre. Die klauen ja dem Klaus von Rip Off die Badges vor der Nase weg!" Pretty Vacant-Eugen: "Die von Rock Gegen Rechts wollten mal Buttocks und Coroners haben." Sänger Jörn: "Neeee ‚ nich mal für Geld!" Eugen: "Wir brauchen RGR nicht, wir können das selbst machen."

Warum gibt es plötzlich so viele Punk-Scheiben zwischen Spree und Rhein? Wieso konnte niemand das SO 36 leiden? Ist Mona Lisa eine Intellektuelle, und was hat es mit dem POP CLUB auf sich? Warum geht der 'Hamburger Sound' nicht aus den Köpfen? Wie sieht die Freundin von Wichser aus? Mehr Tatsachen und Mutmaßungen über die Leute, die die neue Musik machen, und das Land, in dem diese Musik stattfindet, im nächsten SOUNDS!

Fotos: Sabine Schwabroh/Ulrich Maier

(Quelle: SoundS 10/79)


Fresse / Information Overload