Knut Hamsun sagte: "Die Schweizer, dieses Scheißvolk! Hätte ihnen Schiller nicht den Wilhelm Tell geschrieben, hätten sie nicht mal ein eignes Märchen!" Ob Märchen oder selbst Märchen sei mal dahingestellt - auf alle Fälle schlägt in der Schweiz mehr als nur der Vierwaldstätter See Wellen und was die Schweizer an Neuem und Eigenständigem in der Musik haben, wird hier dokumentiert.

Warten auf Sperma. Rechte Seite, von oben nach unten: TNT, Urs Steiger, Kids, Kraft durch Freude

Swiss Wave - Die Eidgenossen rüsten auf

Von Martin Byland und Rene Matti

Wenn die Rede auf die Schweiz kommt werden noch immer die meisten - analytisch und blitzgescheit, wie immer - etwas von Kühen, Sauberkeit, Uhren, Banken und Käse murmeln und das Land hinter den sieben Bergen - halb belächelnd, halb bewundernd - als "ewiggestrig" abtun! Aber Obacht! Es ändert sich was!

In den "wilden 60er Jahren" gab es - wie überall in der Pop-Welt - auch in der Schweiz jede Menge "Beat"-Bands. Die besseren brachten es zu einzelnen Singles und die allerbesten sogar zu einer LP.
Außer ein paar wenigen Berner Mundart-Rock-Bands, die's aber auch nicht viel weiter als bis zu notorischer Lokal-Berühmtheit gebracht haben, gab es niemanden, der mit Erfolg einen eigenständigen Sound zu kreieren versuchte.
Auch die damalige Jazz-Rock-Szene hat im Rückblick keine Bedeutung, außer es wäre jemand stolz darauf, daß wir hier den drittbesten Zappa und den fünftbesten Mahavishnu hervorgebracht haben.

Käse/Schokolade/Uhren

Im Gegensatz zur Käse/Schokolade/Uhren-Produktion hat das schweizerische Musik-Entertainment keine Traditionen, was sich logischerweise sowohl auf die Musiker wie auf das Rock-Publikum auswirkt. Dieses biedere und provinzielle Publikum - weder von den Unannehmlichkeiten einer Großstadt noch von Geldsorgen gepeinigt - ist deshalb auch nicht unbedingt gewohnt, Musik-Veranstaltungen zu besuchen. Da die hier meistgehörte Musik englische Texte hat, ist man sich vielfach nicht darüber im Klaren, daß auch eine Message dahinter stecken kann. Musik hat praktisch reine Unterhaltungs- und Ablenkungsfunktion.
Dem Schweizer geht es ja im allgemeinen recht gut (was wir ja auch zu schätzen wissen). Die Arbeitslosenzahlen halten sich in Grenzen. Somit läßt sich auch das englische Rezept ("wie macht man aus einem Arbeitslosen einen Pop-Star") nicht auf die Schweiz übertragen. Unter diesem Aspekt leidet natürlich etwas die Disziplin und die Ernsthaftigkeit unserer Rock-Musiker. Dazu kommt der Umstand, daß es um Auftrittsmöglichkeiten in der Schweiz katastrophal bestellt ist. Es gibt wohl Hallen, in denen die üblichen großen, pervertierten Rock-Acts über die Bühne gehen, hingegen muß für jedes kleine Konzert praktisch unter schwierigsten Bedingungen (vor allem Probleme mit den Behörden) eine neue Räumlichkeit gefunden werden. Wenige Live-Clubs bilden die spärlichen Ausnahmen. Trotzdem waren die Zürcher Clubs "Hey" und "Entertainer" und das Genfer "New Morning" die Stützen der ersten Punk-Stunde.

Lebendig begraben: Live-Clubs

Diese Clubs begannen schon 1976, englischen Punk regelmäßig in ihr Programm aufzunehmen; zu den Gästen des "Hey" zählten Koryphäen wie Jimmy Pursey, Ian Dury, die Boomtown Rats und andere. Die Aera dieser Live-Clubs ist allerdings längst gestorben und abgeschlossen, da bei den Konzerten schon mal etwas in die Brüche ging und diverse Omas rund um die Clubs nicht mehr ruhig schlafen konnten.
Vereinzelte London-Besucher brachten neue Anregungen aus der Punk-Metropole zurück. Auch die frühen Konzerte - damals noch vor halbleeren Räumen - von Patti Smith und den Ramones brachten neuen Wind in das lahme Schweizer Rock-Environment. Nach und nach entstand so wieder ein Bedürfnis nach guter und harter Rock-Musik (auch wenn anfangs die Schickeria den Ton angab und die Mode machte).
Zu jener Zeit kam auch in England die Punk-Bewegung mehr und mehr ins Rollen, was wiederum einigen Leuten hier einen weiteren Kick gab. Logischerweise - oder nicht? - nahmen die damals gegründeten Gruppen die Bezeichnung "Punk" für ihr Image und ihre Musik in Anspruch. Eine der ersten Bands (1977) waren die Züricher "Nasal Boys". Rudolph Dietrich, der heutige Kraft durch Freude-Gitarrist, sagt über die Anfänge der Band: "Sie wurde eigentlich auf Grund von Frustrationen gegründet. Es gab sicher schon ein paar Punk-Singles in England, aber es war nicht so, daß wir nun sagten, ‚wir machen jetzt auch Punk'. Wir taten das wirklich aus unserem Bedürfnis heraus. Wir nahmen anfänglich auch nicht an, daß diese Musik ‚Punk' heißt, diesen Ausdruck haben wir einfach übernommen."
Trotz englischem Outfit der Protagonisten gibt es einen großen Unterschied zwischen der hiesigen und der englischen Punk-Bewegung vor der ersten Stunde: im Gegensatz zu London entstand der Schweizer Punk eher aus Frustration und Langeweile als aus sozialem oder politischem Engagement. Die ersten Bands, wie die Nasal Boys, die Troppo und die legendären Dogboys wurden angespornt durch die Tatsache, daß es - ähnlich wie in den frühen "Beat"-Tagen - wieder möglich war, Musik zu machen, die die Leute liebten und nachvollziehen konnten. Niemand mußte ein Supervirtuose oder im Besitz einer Anlage im Wert von hunderttausend Franken sein.
In jenen Tagen spielten die Clash vor sage und schreibe 1000 Leuten als erste englische Punk-Gruppe in der Schweiz. Dieser Gig bewies, daß Punk nicht nur Musik, sondern auch Styling bedeutet. Hunderte extrem gestylte, kurzhaarige schweizer Punks zeigten den erstaunten, ebenfalls anwesenden Durchschnitts-Rock-Fans, daß ein Punk-Konzert weitaus mehr Action und Fun in Form von Pogo bietet als ein gewöhnliches Rock-Konzert mit seinen sich selbst überlassenen Zuschauern, die höchstens mal zwischendurch in ihre imaginären Gitarren greifen, damit sie bei den obligatorisch endlos langen Soli nicht einschlafen.

Zeichen der Zeit: No Fun

Die Bewegung zog weitere Kreise. Daran hatten vor allem Urs Steiger, Peter Preissle und Iggie Wiederkehr großen Anteil. Sie gründeten um diese Zeit mit "No Fun" das erste, beste, wichtigste und noch heute erscheinende Schweizer Punk-Fanzine. Dieses monatlich erscheinende Magazin hatte eine enorme Wirkung sowohl auf sein .Zielpublikum als auch auf die Medien, weil es die Zeichen der Zeit erkannt hatte. Und diese Zeichen standen auf Punk...
Innert kürzester Zeit wurden neue Fanzines unter die Leute gebracht. Vom "kleinsten Fanzine der Welt" bis zu einem 80 Seiten starken Wälzer erschienen unter Namen wie "Schwindel", "Klo", "Shit", "Punk Rules", "Pin U" ‚ "Wake Up", "Fuck", "Jamming" und "Rofä" die teils merkwürdigsten Surrogate. So war trotz allgemeinen Zeitungssterbens (und von der breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet) die schweizer Presselandschaft um ein Vielfaches farbiger geworden. Die Bewegung hatte ihre eigenen Sprachrohre. Unterdessen gab es auch zahlreiche Bands und von ihnen sogar schon die ersten Live-Kassetten. Was noch fehlte, waren Platten.

Vinyl-Gequietsche

Die Nasal Boys brachten Anfang '78 ihre erste Single auf den Markt, und ein weiterer "Mann der ersten Stunde", den man dem Punk-Umkreis zurechnen kann, der Techno-Rocker Dieter Meier, zog mit einer avantgardistischen Single nach. Schließlich wurde in jenen Tagen, als absolutes Novum für die Schweizer Rock-Szene, eine All-Girls-Band, Kleenex, gegründet. Ihre erste EP wurde vom englischen Star-BBC-Disc-Jockey John Peel furios gepusht und die vier quietschenden Girls machten auf der Insel und auch in Deutschland (beim ersten "Into the Future"-Festival in der Hamburger Markthalle) mit ihrem naiv-intellektuellen Sound Furore. Kleenex schafften es, daß England überhaupt eine schweizer Rock-Produktion zur Kenntnis nahm.
Hier in der Schweiz schielte man jetzt weniger nach London, sondern besann sich lieber auf die eigene Kreativität. Das fiel umso leichter, weil die erste Band, die sich bei einer großen Plattenfirma unter Vertrag nehmen ließ, bös' auf die Nase gefallen ist: die Nasal Boys hatten nach der in eigener Regie produzierten, knallharten Single "Hot Love", nach einigen TV und Rundfunk-Auftritten, Interviews und lokalen Auftritts-Erfolgen einen Vertrag mit der CBS unterschrieben. Nach einem, von der Firma diktierten Namenswechsel, produzierten sie unter dem nichtssagenden Namen Expo eine unter aufwendigsten Bedingungen in London eingespielte LP mit dem Sex Pistol-Produzenten Dave Goodman.
Das Album ist ein äußerst hörenswertes Produkt, hat aber nicht viel mit dem harten Konzept der Nasal Boys gemein. Deshalb waren die meisten bitter enttäuscht von ihrem merkwürdigen "Intellektuello-Punk", wie er genannt wurde. Dies und eine Reihe persönlicher Gründe brachte den Expo-Gitarristen Rudolph Dietrich dazu, die Band zu verlassen und damit auch die Company, an die er rechtlich noch gebunden war. (Auch Expo haben sich nach einer weiteren Flop-Singel unterdessen von dem Schallplatten-Konzern im Streit gelöst, und die Band hat sich entnervt aufgelöst). Nach langwierigen Streitereien um die Vertragsauflösung brachte Rudolph eine Single in eigener Regie auf den Markt. Um diese Platte überhaupt in eigener Regie herausbringen zu können, war die Gründung einer unabhängigen Plattenfirma notwending. So entstand das Label Off Course Records. Die erste Singel war Dietrichs Abrechnung mit seiner musikalischen Vergangenheit und den unsensiblen Machenschaften des großen Musik-Business: "No Claim With Bluff And Swindle".

"No Claim With Bluff And Swindle"

Gleichzeitig mit der Dietrich-Schallplatte erschien - ebenfalls auf Off Course Records - der Singel-Erstling der Lachener Gruppe Mother's Ruin. Die Mother's-Songs haben einen eigenständigen, originellen Sound. Der "Danny Hot Dog"-Song ("He's in love with hot dogs/he gets hot from hot dogs") gehört zum Absurd-Witzigsten, was die hiesige Szene zu bieten hat.
Urs Steigers neu gegründetes Label Another Swiss Label veröffentlichte zur gleichen Zeit die Hymne "Züri Punx" ("Zyt vom Flower-Power isch verbii/Woodstock isch scheisse gsii...") der Gruppe Sperma. Diese Single drückt mit ihrer musikalischen Direktheit und ihren parolenartigen Texten ("Sie träumed vo Punk und Anarchie") sehr schön die wilde Entschlossenheit der ersten Runde aus.
Schließlich zogen die Glue Ams (auf eigenem Label) aus Bern mit einer Single nach. Die Sozz aus Büren, von vielen als die "bestaussehende Band" bezeichnet, brachten auf Farmer Records eine Single auf den Markt, die man als "zweitbeste Clash-Platte" bezeichnen könnte. Die TNT verkündeten auf ihrem Erstling - vielleicht eine Spur zu optimistisch - "Züri brännt". Allerdings trifft der Song "Subwayscene" genau den Kern der Sache. TNT gehören zu den härtesten und schnellsten Pogo-Bands der Schweiz.
Nie zuvor hatte die Schweiz eine derart aktive Musik-Szene, in der praktisch jeden Tag Neues passierte. Eine schnelle Zeit, mit harter, schneller Musik. Dies dokumentieren auch die beiden ersten 12-Inch-Maxi-Singles. Auf der einen waren mit je zwei rasanten, urigen, echten Fegern die Sick aus Uster und die Chaos aus Feldkirch (Österreich) zu hören. Beide Bands haben nichts mit Schöngeistigem im Sinn. Da gibt es kein langes Gefackel, sondern man kommt sogleich knallhart zur Sache.
Dann die Sperma mit einer weiteren EP. Dieser 12-Incher enthält eine höhnische Abrechnung der Spermien mit der CH-Rundfunk-Sendung "Sounds", von der sich die Gruppe zensiert fühlte, einen bitterbösen Song über die Polizei ("Ich hasse so die Scheiss-Schmier") und einen Abgesang auf das Love & Peace-Feeling der 60er Jahre ("No more love and no more peace in 78").

Peinliche Entdeckungen

In der ersten Hälfte von '79 war die erste Generation an Schweizer New Wave- und Punk-Platten erschienen. Diverse Bands hatten die Gelegenheit genutzt, ihre musikalischen Ideen im Studio zu überprüfen. Dies führte bei einigen Musikern zu teilweise peinlichen Entdeckungen, hatten sie ihren eigenen Sound doch bisher nur über schlechte bis mittelmäßige Anlagen gehört. Auf dem Seziertisch (Mischpult) des Studios lernten die Bands also ihre eigene musikalische Anatomie kennen. Diese Erfahrung half den Bands, besser und professioneller zu werden.
Auch die Produzenten waren jetzt in der Lage, die Platten gezielter zu konzipieren und nicht mehr völlig von den Studio-Ingenieuren abhängig zu sein, die ja zum Teil (logischerweise?) eine völlig andere Ansicht über Produktionsweisen haben als die jungen Punk-Produzenten. Die Erfahrungen mit den ersten Produktionen brachte ein erweitertes Wissen um die ganzen Studio-Mechanismen und -Abläufe mit sich, was sich schon bei der zweiten Generation an "Swiss Wave"-Platten deutlich bemerkbar macht. Als erstes wäre die Genfer Gruppe Jack & The Rippers erwähnenswert, die mit einer modsigen Pop-/Punk-Scheibe überraschte. Nach dem Anhören von "No Desire" bleibt wirklich kein Wunsch mehr offen.
Die erste Maxi-Single von Rudolph Dietrichs Kraft durch Freude ("Wir bleiben Kameraden") und die zweite Produktion der Mother's Ruin ("Godzilla") gehören sicher zum Stärksten, was in der Schweiz je in schwarze Rillen gepreßt wurde. Auch die Glue Ams, die Yodler Killers und die Genfer Technycolor mit ihrem "sehr persönlichen expressiven, mechanisch-elektronischen, narrativen integralen Sound" (Zitat Presseinfo) konnten mit hörenswerten Singles aufwarten. In den letzten Monaten sind weitere Platten von den Sozz, TNT und Kraft durch Freude erschienen.
An diesem Punkt ist es wichtig zu erwähnen, daß Swiss Wave sich mehr und mehr von seinen englischen Vorbildern gelöst hat. Der beste Beweis dafür ist die 12-inch-EP "Godzilla" der Mother's Ruin. Der heute bereits legendäre erste Auftritt der Band, bei dem sie Kleenex beinahe an die Wand spielten, fand im Heimatort der Mother's statt: in einem Landgasthof organisierten sie ihr Debut, bei dem ein Großteil der Landbevölkerung zum ersten Mal erschreckt-erstaunt festgestellt hat, daß Langhaarige nicht mehr die am verwegensten aussehenden jungen Leute sind. Der Umstand, daß Schweizer New Wave und Punk auch in absolut provinziellen Verhältnissen entstehen kann, dürfte gänzlich ungewohnt sein. In der Schweiz gibt es nicht nur Punks in den Großstädten Zürich, Basel, Bern und Genf, sondern auch in konservativen und ländlichen Gegenden. So fand das erste Schweizerische Punk-Festival 1979 in Emmen bei Luzern statt, einer erzkatholischen Gegend, in der sogar die als Saalordner eingesetzten Rocker als Zeichen ein schwarzes Kreuz auf dem Rücken trugen... Hingegen sind die Songtexte der meisten Schweizer Punks alles andere als konservativ.
Die Sick besingen zynisch und höhnisch und mit kotzähnlichen Geräuschen das Schweizer Money-Business. Gesellschaftskritische Töne (ohne allerdings wieder auf die botschaftsschwangeren Heilslehren der frühen 70er Jahre zurückzufallen) werden vielfach auch von den Sozz ("Patrol Car"), den Sperma ("Bombs"), den Glue Ams ("SS", ein Anti-Nazi-Song), Kraft durch Freude ("If The Woman Rules The World I Kill Myself", "Berlin-Wall", "68' Zombies") angeschlagen. Rudolph Dietrich kam dank seines Band-Namens, des Maxi-Single-Titels und auch wegen seines anfangs schockierenden Kokettierens mit Nazi-Emblemen mehr und mehr in den Ruf eines Neo-Nazis und damit ins Kreuzfeuer einer verzweifelt nach Feindbildern suchenden Kritik, die es nicht so ohne weiteres hinnahm, daß Rudolph sie als "lebende Tote aus der 69er-Bewegung" verspottet. Zu den Angriffen selbst nimmt Rudolph Dietrich Stellung: "Egal an welche Zeit der Name ‚Kraft durch Freude' erinnern mag, sein Inhalt trifft haarscharf die Sache, die wir wollen. Es gibt (in der Schweiz) auch Leute, die beim Anblick eines jeden Deutschen an die Nazi-Zeit erinnert werden. Bei alten Leuten finde ich es verständlich, bei Jungen doof. Ich könnte genausogut sagen, ‚Pistols' erinnere an die Indianer-Ausrottung, was soll das?'
Weitaus unverfänglicher dagegen die Texte der Kleenex ("Sie sind so nett, die kleinen schwarzen Pudel, oh, so naiv im Rudel"), in "Nice" oder "ü, ü". Harmlos, wie vieles in einer teils sehr modisch geprägten New Wave-Punk-Szenerie?
Zürich war schon 1976 bekannt für seine ausgesprochen schicke und elitäre Musikergarde, die im Verlauf der Punk-Entwicklung durchzuhalten vermochte. Der Maler, Bildhauer und Drehbuchautor Dieter Meier gehört zu den expressivsten Sängern der Schweiz. Begründet durch seine Experimentierfreudigkeit trat er mit immer neuen Bands unterschiedlicher stilistischer Herkunft auf und veröffentlichte drei einprägsame, differenzierte Singles. Als Meier bereits 1976 eine LP aufnahm, glaubte niemand an eine Veröffentlichung und auch nicht daran, daß aus dem Material ganze zwei Jahre später Singles ausgekoppelt würden. Dann kam Yello: mit dieser elektronischen Band nahm Meier eine 12-Inch-Single auf, um seine schnarrende Stimme in völlig neuem Klangumfeld zu präsentieren.
Ausgefallen und irritierend die erste Platte des aus dem frühen Meier-Umfeld stammenden Röbi Vogel. Die in Mundart mehr gesprochenen als gesungenen Titel sind teilweise sehr melodiöse Toncollagen, die zu Stockhausens beliebtesten Schlagern zählen könnten. Ebenfalls mit dem Meier aufgewachsen sind die Aarauer Fresh Color, die nach zwei eigenen Singles auf Stiks Records kürzlich eine hervorragend produzierte EP herausbrachten. Die neue Sängerin Liza Wue bringt die fünf New Wave-Songs mit professioneller Kühlheit.

Humor ist, wenn man "ü, ü" macht...

Wichtiger Aspekt in der Entwicklung ist der für viele Schweizer Punks typische Humor und eine gute Portion Selbstironie. Treffendes Beispiel dazu sind die Mother's Ruin mit ihrem tragisch-komischen japanischen Liebeslied über das Monster "Godzilla": "Love makes her feel like a horny youngster/Makes her forget that she's a monster". Und nachdem sie ihren angebeteten Beachboy mit einem Flammenkuß beglückt hatte: "She drives back to ocean crying brokenhearted/The fun was over before it really started".
Überhaupt sind die Mother's Ruin eine der originellsten Bands der hiesigen Szene. In ihrer ländlichen Abgeschiedenheil waren sie zwar spitz darauf, Punk zu machen, weil sie gehört hatten, daß dies der letzte Kick sei, aber sie kannten in ihrer Anfangszeit praktisch nur die Velvet Underground. Ihr Sound, der sich so völlig eigenständig und von England weitgehend unbeeinflußt entwickeln konnte, ist melodiös, ganz im Gegensatz zu den TNT, die das schnellste und härteste Repertoire spielen und als eine der "echtesten" Punk-Bands gelten. Ihre erste erfolgreiche Single "Subwayscene" und auch die zweite, "Remember The
TNT-Fight", befassen sich mit Zeiterscheinungen wie Aggressionen (etwa den z.T. gewalttätigen Auseinandersetzungen der Punks mit den Teds, Rockern und Discos in Zürich).
Eine der frühesten und aggressivsten CH-Punk-Bands, die für eine weitere Befruchtung der Schweizer Rock-Szene ejakuliert, ist Sperma, die um einen Saxofonisten verstärkt in die nächste Runde geht.

Im Vollrausch

Es brodelt in der Schweizer Szene. Seit den legendären Tagen des Schweizer "Beat", der immerhin so erstaunliche Gruppen wie Les Sauterelles (damals auch als Swiss-Beatles bezeichnet), The Dynamites, Sevens (weil sie zu viert Krach wie sieben machten...), The Slaves hervorbrachte, ertönt wieder Musik und Lärm, der den Namen Rock'n'Roll verdient.
Wie sich auf Dauer zeigt, sind die Schweizer Punks ausgesprochene Aktivisten. Das würde man ihnen nicht unbedingt zutrauen, wenn man sie bunt und lärmig - in Bier getränkt, das sie über alles lieben - auf der Gasse herumhängen sieht. Der harte Schweizer Punk ist entweder Verleger und Redakteur eines der vielen Fanzines oder Organisator eines der Punk-Konzerte oder Musiker oder gar alles zusammen. Praktisch jeden Tag entstehen neue Bands, von denen einige wahrscheinlich nie über ein paar Gigs hinauskommen werden. Andere werden einem eingefleischten Liebhaber-Publikum vorbehalten bleiben. Bands jedoch wie die vorhin erwähnten werden heute schon von einem Publikum beachtet, das bei den ersten Auftritten der CH-Punks noch schreiend davonlief. Weitere Gruppen, die in letzter Zeit von sich reden machten, sind Mystery Action, Kiars, Rebels, Shit-X, V-Sex, Hexan-5, Bastards, Volcan, Crazy, Zero Hero's. Alle diese jungen Bands verfügen über ihre kleine Fan-Gemeinde. Eine Schweizer Eigenheit ist auch, daß die Punks ihren Bands überall hin nachreisen. Das hat zur Folge, daß zwischen dem Vorarlbergischen Feldkirch und Genf beinahe jeder Punk den anderen kennt. Nach herkömmlichen Klischees müßte man annehmen, daß diese Inzestsituation die Gefahr einer allmählichen Degeneration mit sich bringt. Aber ein zunehmender Bekanntheitsgrad der Punks und ihrer Produktionen sollte das verhindern. Auch der "interne Wettbewerb" der Punkbands einerseits verhindert ein Abflachen der musikalischen Intensität. Und andererseits dokumentieren die bisher erschienenen Platten die beachtliche Entwicklung der Szene. Mit ihren Initiativen und ihrer Promotion tragen die Labels und die langsam über die Sensationslust hinausgehenden Medien zu einer Erweiterung des Spektrums der Swiss-Wave-Szene bei.

Noch viel zu tun

Noch gibt es hier keine echten Profis. Noch erscheinen die Platten nur in einer beschränkten Auflage. Noch klappt nicht alles optimal. Noch sind die Schwierigkeiten allerorten enorm. Noch ist die finanzielle Lage äußerst knapp. Trotzdem, es ist ein Anfang gemacht.
Die nächsten Schritte werden erste Alben sein. Weiter ist eine schweizer Vertriebsfirma (Swiss Wave Distribution) im Aufbau. Ein Grundstein ist gelegt, auf dem sich durchaus Größeres aufbauen läßt. In diesem Sinne: Heute die Schweiz, morgen die Welt, und übermorgen das Sonnensystem... Swiss Wave Rules!
P.S. Kleenex sind alive und weil! Allerdings nicht mehr unter dem Konzern-Namen, der ihnen ja bekanntermaßen untersagt worden ist. Ursprünglich wollten sie sich Wig-Wam nennen und nun, lies und staune, Liliput. Neu bei Liliput sind Angie Barrack (Saxofon) und Chrigel Freund (Vocals). Ende Mai erschien auf Rough Trade die erste Liliput-Single mit zwei neuen Titeln: "Split" und "Matrosen". Und im Juni steigt die erste Tour der neuen Formation in der BRD.

(Quelle: Sounds 6/80)


Historisches Bla-Bla

CH-Käse-Bericht: Euer Menü Zürcher Gekotztes mit Risi-Pissi war wahrlich zum Pissen vortrefflich geeignet. Euer Köche-Team Byland/Matti hatte mir ganz schön die Laune versalzt.
War hier vor allem die Rede von der Inzucht-Szene Zürich, so hat man die Genfer, Berner bloß gestreift und die Luzerner, Basler, St. Galler (Vorarlberger) gar links liegen lassen.
Mir scheint, daß Byland (seines Zeichens "Off Course "-Gründer) mit diesem Artikel seine Bands (KdF, Mother's Ruin, Sick, TNT) in der BRD schmackhaft machen wollte. Die neue gegründete Vertriebsfirma "Swiss Wave-Distribution" (Byland/Steiger) agiert mit den restlichen Bands (Sperma, Jack and the Rippers, Technycolor etc.). Ja, so einfach ist das. Und wenn du nicht dabei bist, bist du selber schuld.
Die harten Punk-Bands wie Rebels, Liars, IV-Sex (IV!), Technos (CH.Rarität) wie Grauzone, Mädels wie Retro, schließlich New Punk von Crazy haben es besonders schwer mit Gigs und Platten. Denn sie sind die wirklichen Frisch-Wind-Macher neben TNT und Liliput. Das SOUNDS ist ein wirklich modernes Fanzine mit sehr interessanten Artikeln. Danke! Aber solch historisches Bla-Bla-Zeugs von Annodazumal und so kann es für die CH-Rock-History aufbewahren.
E so chömmer 1984 grad vergässe.

Alwin Luschin,
CH-6014 Littau

(Leserbrief Sounds 7/80)


Fresse / Information Overload