THIS HEAT: MUSIC LIKE ESCAPING GASthis heat

music like escaping gas

Es ist ziemlich schlechte Angewohnheit, mit Erlebnissen hausieren zu gehen, wie: "Übrigens, ich hab damals Nirvana im BAD gesehen, als sie noch keiner kannte." Manche werden ehrfurchtsvoll nach Details fragen und dann erfahren, daß Du noch eine Setliste von der Show hast (Reliquie!), und daß Tad Doyle, der damals zusammen mit Nirvana auf Tour war, auf der Bühne während des Konzert gekotzt und trotzdem weiter Gitarre gespielt hat. Die meisten aber werden "Oh, wie interessant" sagen und bei sich denken "Was für ein Angeber." Und wenn sie jünger sind, werden sie sagen: "Damals bin ich auf die Grundschule gegangen und Punkrock war mir sowas von scheiße egal, also hör auf, mich zu langweilen, du alter Sack!" All das wird Dir mit THIS HEAT nicht passieren.

This Heat, über die nicht viele biographische Details im Umlauf sind(1), waren ein über 6 bis 7 Jahre bestehendes Trio, veröffentlichten zwischen 1979 und 1981 zweieinhalb Platten, und tourten mehrmals durch Deutschland. Ich bezweifle, daß viele Menschen bei diesen Konzerten dabei waren, denn damals gab es "interessante" und/oder "wichtige" Gruppen aus England im Sechserpack. Doch die wenigen, die This Heat zufällig oder absichtlich sahen, werden die drei wohl nie vergessen. Bei dem Auftritt, den ich unvorbereitet Ende 1980 in Hildesheim (Von der Tour gibt es eine offizielle Live-Cassette eines deutschen Kassettenlabels, die zwar im Nachhinein von der Band verworfen wurde, aber vielleicht noch als LP-Raubdruck zu finden ist.) erlebte, betraten Charles Hayward, Charles Bullen und Gareth Williams die Bühne in ihren abgerissenen Tourneealltagsklamotten, umgeben von einer Ansammlung von Verstärkern, Kassettenrecordern, Kaufhauskeyboards und Perkussionsteilen, die eher auf eine Big Band schließen ließen als daß die drei sie alleine hätten bedienen können. Doch aus dem Nichts begannen sie mit solch einer Energie und Intensität zu spielen, wie sie wohl keiner der Anwesenden in ihren ausgemergelten Körpern vermutet hätte. Sie spielten keine Songs, sondern Soundscapes (Darf ich "Klanglandschaften" sagen, oder klingt das zu krautig?) mit psychedelischen Phasen, Lärmausbrüchen, nervös und im nächsten Moment meditativ, laut und leise, schnell oder langsam, roh und sanft, verwildert, geplant, virtuos, unangenehm und was es noch mehr an Worten gibt, die sich diesem Konzerterlebnis nur annähern, es aber nie erfassen können.

Obwohl unzweifelhaft aus dem gleichen Ekel auf das Mitte der 70er Jahre stagnierende Rockmusikgeschäft geboren wie Punk (Wo ist dieser Ekel heute?!), ging die Musik von This Heat einen viel tieferen und ganz anderen Weg als die oft an der Oberfläche plakativ stehenbleibenden Punx, auf der Suche nach dem Sinn und dem Glücksversprechen von Musik an sich hinter den verlogenen Rock‘n‘Roll-Klischees. Rockmusik hatte in den siebziger Jahren fast vollständig die Fähigkeit verloren, die Menschen emotional anzusprechen, zu berühren oder gar zu verletzen, und erschöpfte sich in pathetischen und effektheischenden Posen und oberflächlichen Ritualen, ohne "zur anderen Seite durchzubrechen". This Heat erschufen eine Musik, der es gelang mit bisher nicht gehörten Klangfarben wieder das zum Tragen zu bringen, was Musik in ihrem eigentlichen Kern ist: ein viel direkterer Ausdruck menschlicher Gefühle als Sprache es je sein kann.

This Heat sind schon lange nicht mehr zusammen, doch die Ergebnisse ihrer intensiven Zusammenarbeit lassen sich auf ihren wenigen Veröffentlichungen noch immer gut nachvollziehen. Gegründet im Februar 1976(2) von Charles Bullen (Gitarre etc.), Charles Hayward (Schlagzeug, Perkussion etc.) und Gareth Williams (Keyboards, Bass etc.) hat sich das Trio nie um ein Image, sondern nur um ihre Musik gekümmert. Die Aufnahmen zu ihrer ersten LP THIS HEAT(4) entstanden in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren bei verschiedensten Gelegenheiten und zeigten schon Materialfülle und Intensität als Merkmale ihrer Arbeitsweise jenseits üblicher harmonischer oder melodischer Dramaturgie. Die unglaublich intensive und selbstkritische Zusammenarbeit brachte ein Jahr später die Maxisingle HEALTH AND EFFICIENCY hervor mit 2 langen Stücken (in der Zeitschrift Sounds bemerkenswerterweise als LP besprochen, weil der Rezensent die Platte auf falscher Geschwindigkeit abzuspielte) hervor und präsentierte die verschiedenen Techniken von This Heat in ihren Extremen. Auf der einen Seite das Titelstück, montiert aus vielen sich offenbar widersprechenden Musikteilen, Gitarrenriffs und Gesängen, übergehend in einen repetativen Gitarren-und-Schlagzeug-Drone mit Geräuschinterventionen. Auf der anderen Seite "Graphic/Varispeed", ein konstanter vibrierender Ton, der nur von Zeit zu Zeit in der Tonhöhe variiert wird. "Health And Efficiency" erscheint in diesen Tagen erstmals auf CD - alleine, weil nach Ansicht von This Heat kein anderes Stück musikalisch mit auf die CD gepaßt hätte, und "Graphic/Varispeed" bereits auf der REPEAT-CD enthalten ist, eine Entscheidung, für die 4 Jahre gebraucht wurde.

Ihre zweite LP DECEIT führte die unterschiedlichen Richtungen ihrer Musik zusammen und näherte sich bisher völlig verweigerten Songstrukturen an, was sich auch an einem deutlich höheren Gesangsanteil zeigte. Die LP erzeugt über nervösen Schlagzeugrhythmen eine Art psychedelisch-meditative Stimmung, die This Heat erneut aus allen damals geläufigen Musiktrends hinauskatapultierte. Kurz vor der Veröffentlichung dieser LP kam es zum Bruch mit Gareth Williams, der danach für 2 Jahre in Indien verschwand(5). Bullen und Hayward arbeiteten mit neuen Musikern als Quartett weiter(6), doch konnten sie offenbar keine überzeugende Fortsetzung des bisherigen Konzeptes finden, wie ein Konzertbericht von Joachim Ody aus dem Frühjahr 1982 nahelegt, sondern verirrten sich in einer Art hochvirtuosen Artrock. Das sind jedoch reine Spekulationen, denn von dieser Formation wurden nie Aufnahmen veröffentlicht. Hayward entwickelte mit Camberwell Now später die Richtung von DECEIT in Richtung Pop weiter(8), während die anderen Mitglieder mehr oder minder von der Bildfläche verschwanden. Heute organisiert Hayward eine monatliche Reihe mit Konzerten in London, die stark von der Improvisation sowie der jeweiligen Zusammenstellung der Musiker leben. Daneben veröffentlicht er aktuell Material, daß er mit verschiedenen japanischen Musikern und Peter Brötzmann eingespielt hat. Charles Bullen arbeitet hauptsächlich als Produzent und Tontechniker und tritt gelegentlich mit Circadian Rhythm auf.(7). Gareth Williams dagegen hat sich auf die Arbeit als Fotograf und Autor unter anderem über Indien verlegt. Die zeitlose Musik von This Heat wird jedoch von These Records vor dem Vergessen bewahrt und neu aufgelegt. Auch bisher unveröffentlichtes Kollagenmaterial (REPEAT) und die BBC-Radiosessions von 1977 wurden nach langen Gesprächen mit This Heat zugänglich gemacht. Neben der "Health And Efficiency"-CD, die auch als Doppel-LP zusammen mit "Graphic/Varispeed" und den beiden anderen Stücken der REPEAT-CD erscheint, ist bis zum Ende dieses Jahrtausends eine Anthologie mit unveröffentlichten Aufnahmen und dem TAGO MAGO-Tape(3) auf CD angekündigt, unter anderem, um verschiedenen CD-Raubpressungen das Wasser abzugraben - es sei denn, das dieser Zeitraum für die sorgfältige Arbeit der Herren Bullen, Hayward und Williams zu kurz ist.

Text zuerst erschienen in LOUNGE #5 (Hannover) Dezember 1997


(1) Aus einer detaillierteren Biografie, die ich vor kurzem im Internet gefunden habe, folgende zusätzliche Informationen: Charles Bullen (guitar, clarinet, viola, vocals) und Charles Hayward (drums, vocals, keyboards) trafen sich 1972, als Hayward auf eine Kleinanzeige des Liverpooler Gitarristen Bullen im Melody Maker antwortete und nach London reiste und beide für kurze Zeit das Duo Radar Favourites bildeten. Im Februar 1974 gründeten Hayward und Bullen Dolphic Logic, doch der Band war auch nur ein kurzes Leben beschieden. So kam es, daß Hayward, der von 1968-70 mit Phil Manzanera bei Quiet Sun gespielt hatte, sowie von 1970-72 bei Amazing Band und 1972 bei Gong, auf Manzaneras Einladung 1975 auf MAINSTREAM der reformierten Quiet Sun und auf Manzaneras Solo-LP DIAMOND HEAT zu hören war.

(2) Im Januar 1976 stieß Gareth Williams (guitar, bass, vocals, keyboards) zum Duo Hayward/Bullen und This Heat waren geboren. Williams hatte vorher noch nie ein Keyboard angefasst, was sowohl die musikalische Einstellung als auch die instrumentale Herangehensweise der Band veränderte und ihnen ermöglichte, freier zu improvisieren und zu komponieren. 3 Wochen später gaben sie ihr erstes Konzert in London. 1976/77 waren geprägt von ständigen Proben, Demo-Aufnahmen und Live-Auftritten, die ihren Ruf für ihren kompromisslosen Sound festigten. Fast schon schizophren wechselten sie zwischen Augenblicken stiller Schönheit und plötzlichen Lärm-Attacken. Dies zeigt sich beispielhaft in den beiden Sessions für John Peels BBC Radio 1-Sendungen, die sich noch immer jeglicher Beschreibung entziehen.

(3) Gegen Ende 1977 trafen This Heat den ghanesichen Perkussionisten Mario Boyar Diekvuroh, mit dem sie auch auftraten und der einen immensen Einfluss auf sie hatte. Probemitschnitte aus dieser Zeit wurden schließlich 1981 auf dem französischen Label Tago Mago als limitierte Kassette veröffentlicht. Zur gleichen Zeit hatte die Band die Freiheit, im Proberaum völlig ungebunden und selbstbestimmt aufzunehmen.

(4) Zwischen 1977 und 1978, gab es von verschiedenen Plattenfirmen intensive Versuche, die Band zur Veröffentlichung einer LP zu überzeugen, doch This Heat behaupteten ihren unabhängigen Anspruch. THIS HEAT erschien schließlich 1979, produziert von David Cunningham (u.a. Flying Lizards) und dem Slapp Happy-Gitarristen Anthony Moore. Die LP stieß auf einhelliges Lob, ungeachtet einiger Kritik ausgelöst von Haywards Robert Wyatt-esquen Gesang.

(5) Im Juli 1981 trat Williams zum letzten Mal als Mitglied von This Heat auf, bevor er nach Indien reiste, aber nicht bevor die exzellente Maxisingle HEALTH & EFFICIENCY veröffentlicht wurde. Später im Jahr wurde DECEIT auf Rough Trade Records enthüllt. Im gleichen Jahr fand Hayward auch Zeit, Schlagzeug auf PEDIGREE CHARM von Laura Logic und auf ODYSHAPE von den Raincoats, mit denen er später als Schlagzeuger durch England tourte, zu spielen. Zu dieser Zeit spielte auch Bullen unter dem Pseudonym Bilbo Baggins auf der ersten Solo-LP "A-Z" von Colin Newman (Ex-Wire) mit.

(6) Im April 1982 taten sich Hayward und Bullen mit Trefor Goronwy (bass, vocals) und Ian Hill (keyboards, vocals) zusammen. Diese Formation war nur von kurzer Lebensdauer und spielte nur eine Handvoll Konzerte in Europa, bevor sie zu ihrem enthusiastisch besprochenen letzten Auftritt am 18.Mai nach England zurückkehrte. Obwohl nur 2 Studio-LPs, eine Maxisingle und 2 Veröffentlichungen nur auf Kassette erschienen, hält der Einfluß von This Heat an und die Tatsache, daß ihre Musik heute noch genauso wagemutig und abenteuerlich klingt wie bei ihrem ersten erscheinen ist ein Beleg ihrer Einmaligkeit.

(7) Nach dem Ende der Band konzentrierte sich Bullen auf die Arbeit als Aufnahmetechniker, arbeitete aber auch mit Jean-Dominique Nkishi von Mouse On Mars bei den psychedelischen Jazzern Circadian Rhythms zusammen, von denen 1997 bei Damage Records INTERNAL CLOCK erschien.

(8) Hayward und Goronwy taten sich mit Stephen Rickard (tapes, autoharp) zu den traurigerweise unbeachtet gebliebenen Camberwell Now zusammen, die von Rickards "tape switchboard" Gebrauch machten, einer frühren Form des Samplings. Die Band erreichte nie ganz die Intensität ihre Verläufer, aber sie erforschten ihre melodischen Eigenschaften tiefer. Ihre begrenzte Veröffentlichungsliste enthält die LP THE GHOST TRADE und eine Maxisingle mit dem alten This Heat-Song "Green Fingers". Während einer Kunstpause im Schaffen von Camberwell Now tat sich Hayward mit zwei anderen Schlagzeugern, Rick Brown und Guigou Chenevier (von Etron Fou Leloublan) zusammen, um NOISY CHAMPS unter dem merkwürdigen Namen Les Batteries aufzunehmen. Nach Camberwell Nows Auflösung 1986 nahm Hayward die eher Song-orientierte LP SURVIVE THE GESTURE auf. Zwei weitere Veröffentlichungen folgten, beide gleichermaßen verschieden in Klang und Thema: SKEW WHIFF, ein Tribut an den amerikanischen abstrakt-expressionistischen Maler Mark Rothko, und SWITCH ON WAR, ausgelöst vom Golf-Krieg 1991. Hayward trat auch häufig mit dem Gitarristen Fred Frith (ex-Henry Cow und (The) Art Bears) auf in einer Band namens Keep The Dog, ebenso arbeitete er mit Nick Doyne-Ditmus (ex-Pinski Zoo) an einem Projekt namens "Singing Carol".


this heat: discography

© 2000, Martin Fuchs, Hannover, erstellt Freitag, 14. Januar 2000, aktualisiert 31. Juli 2000 , ergänzt 10.11.2006


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